Entschließung des Europäischen Parlaments vom 4. Februar 2016 zur Lage der Menschenrechte auf der Krim, insbesondere in Bezug auf die Krimtataren (2016/2556(RSP))
Das Europäische Parlament,
– unter Hinweis auf seine vorangegangenen Entschließungen zur Östlichen Partnerschaft, zur Ukraine und zur Russischen Föderation,
– unter Hinweis auf den Bericht der Mission zur Beurteilung der Lage der Menschenrechte auf der Krim, die vom Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte der OSZE (BDIMR) durchgeführt wurde, und den Bericht des Hohen Kommissars der OSZE für nationale Minderheiten (HKNM),
– unter Hinweis auf die Beschlüsse des Europäischen Rates (vom 21. März, 27. Juni und 16. Juli 2014), mit denen im Anschluss an die rechtswidrige Annexion der Krim Sanktionen gegen die Russische Föderation verhängt wurden,
– unter Hinweis auf den Bericht des Amtes des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte mit dem Titel „Bericht über die Lage der Menschenrechte in der Ukraine – 16. August bis 15. November 2015“;
– unter Hinweis auf die Resolution 68/262 der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 27. März 2014 mit dem Titel „Territoriale Integrität der Ukraine“,
– unter Hinweis auf den Bericht von Freedom House mit dem Titel „Freiheit in der Welt 2016“, in dem der Zustand der politischen und bürgerlichen Freiheiten auf der rechtswidrig annektierten Krim als „nicht frei“ eingestuft wird;
– gestützt auf Artikel 135 Absatz 5 und Artikel 123 Absatz 4 seiner Geschäftsordnung,
A. in der Erwägung, dass die Russische Föderation die Krim und Sewastopol rechtswidrig annektiert und deshalb gegen das Völkerrecht verstoßen hat, beispielsweise gegen die Charta der Vereinten Nationen, die Schlussakte von Helsinki, das Budapester Memorandum von 1994 und den Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und Partnerschaft zwischen der Ukraine und der Russischen Föderation von 1997;
B. in der Erwägung, dass während der rechtswidrigen Annexion der Krim durch die Russische Föderation im März 2014 ukrainische Staatsbürger einschließlich der Krimtataren wie auch die ukrainische Armee großen Mut und Loyalität zur Ukraine bewiesen haben, als sie sich dem kriegerischen Akt der Annexion friedlich widersetzten; in der Erwägung, dass mehrere internationale Organisationen und Menschenrechtsgruppen öffentlich angeprangert haben, dass seit der Besetzung und rechtswidrigen Annexion der Krim durch die Russische Föderation Anfang 2014 der Schutz der Menschenrechte auf der Halbinsel nur noch sehr eingeschränkt gewährleistet ist;
C. in der Erwägung, dass Berichten zufolge insbesondere im Zuge der Durchsetzung der vage und übermäßig allgemein formulierten Gesetze Russlands über die „Bekämpfung des Extremismus“, mit denen Kritiker eingeschüchtert oder zum Schweigen gebracht werden sollen, die Menschenrechte der tatarischen Gemeinschaft – deren Mehrheit die Machtübernahme durch Russland ablehnte und das sogenannte Referendum vom 16. März 2014 boykottierte – gezielt verletzt wurden; in der Erwägung, dass zu diesen Verstößen auch Entführungen, Verschwindenlassen, Gewalt, Folter und außergerichtliche Tötungen zählen und die De-facto-Verwaltung in diesen Fällen keinerlei Ermittlungen oder Strafverfolgungsmaßnahmen eingeleitet hat;
D. in der Erwägung, dass Anführer der Krimtataren wie Mustafa Cemilev, Mitglied der Werchowna Rada der Ukraine, und Refat Çubarov, Vorsitzender des Medschlis, nicht auf die Krim reisen durften; in der Erwägung, dass sie derzeit zwar einreisen dürften, ihnen dort aber die Verhaftung droht; in der Erwägung, dass ein russisches Gericht inzwischen einen Haftbefehl gegen Mustafa Cemilev erlassen hat, der zuvor schon 15 Jahre in sowjetischen Gefängnissen verbringen musste, weil er sich für die Rückkehr seines Volkes in dessen Heimat auf der Krim eingesetzt hatte;
E. in der Erwägung, dass alle religiösen Gemeinschaften, darunter auch von Moskau unabhängige christliche Kirchen, sich nur noch eingeschränkt betätigen dürfen; in der Erwägung, dass die diesbezüglichen Schwierigkeiten darauf zurückzuführen sind, dass die Vereinigungsfreiheit stark eingeschränkt ist, Enteignungen vorgenommen werden, die Gültigkeit von Dokumenten nicht verlängert wird und regelmäßig Durchsuchungen in den Räumlichkeiten, die den religiösen Organisationen verblieben sind, durchgeführt werden;
F. in der Erwägung, dass Personen, die sich geweigert haben, nach der Annexion die russische Staatsbürgerschaft anzunehmen, diskriminiert werden und mit erheblichen Schwierigkeiten in allen Bereichen des Lebens in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft konfrontiert sind;
G. in der Erwägung, dass Russland den Zugang zur Krim eingeschränkt hat und diese Beschränkungen die OSZE, die Vereinten Nationen und den Europarat betreffen – von nichtstaatlichen Menschenrechtsorganisationen und unabhängigen Journalisten ganz zu schweigen; in der Erwägung, dass es ohne diesen Zugang sehr schwierig ist, die Lage der Menschenrechte auf der Krim zu beobachten und über die Krim zu berichten;
H. in der Erwägung, dass die gesamte Bevölkerungsgruppe der Krimtataren, eines der autochthonen Völker der Krim, 1944 in andere Teile der damaligen UdSSR zwangsdeportiert wurde und erst 1989 auf die Krim zurückkehren durfte; in der Erwägung, dass die Werchowna Rada der Ukraine am 12. November 2015 eine Entschließung angenommen hat, in der sie die Deportation der Krimtataren 1944 als Völkermord anerkennt und den 18. Mai zum Gedenktag erklärte;
1. bekennt sich nochmals entschieden zu der Souveränität und territorialen Integrität der Ukraine in ihren international anerkannten Grenzen und zu ihrer freien und souveränen Entscheidung für eine Ausrichtung auf Europa; erinnert daran, dass es die rechtswidrige Annexion der Halbinsel Krim durch Russland scharf verurteilt hat und dass die EU, ihre Mitgliedstaaten und die internationale Gemeinschaft zugesagt haben, ihre Politik, die rechtswidrige Annexion der Krim nicht anzuerkennen, uneingeschränkt fortzuführen; hebt außerdem hervor, dass die Wiederherstellung der Hoheitsgewalt der Ukraine über die Halbinsel eine der Voraussetzungen dafür ist, die kooperativen Beziehungen zur Russischen Föderation wiederaufzunehmen und die diesbezüglichen Sanktionen aufzuheben;
2. verurteilt auf das Schärfste, dass die Verletzungen der Menschenrechte der Bewohner der Krim und vor allem der Krimtataren, die sich der erzwungenen Herrschaft der sogenannten örtlichen Verwaltung nicht unterwerfen wollen, ein beispielloses Ausmaß erreicht haben und insbesondere unter dem Vorwand der Extremismus- oder Terrorismusbekämpfung begangen werden;
3. verurteilt die schwerwiegenden Einschränkungen der Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit, die auch für traditionelle Gedenkveranstaltungen wie den Jahrestag der Deportation der Krimtataren durch das totalitäre Regime der Sowjetunion unter der Führung Stalins und für kulturelle Zusammenkünfte der Krimtataren gelten; betont, dass die Krimtataren als eines der autochthonen Völker der Krim gemäß dem Völkerrecht das Recht haben, ihre diversen Institutionen in Politik, Recht, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur zu erhalten und zu stärken; fordert, den Medschlis als legitime Vertretung der krimtatarischen Bevölkerung anzuerkennen und von der Einschüchterung und systematischen Verfolgung seiner Mitglieder Abstand zu nehmen; ist besorgt darüber, dass gegen ihr Eigentumsrecht verstoßen wird und ihre Freiheiten beschnitten werden, sie Opfer von Einschüchterungen und Inhaftierungen werden und ihre bürgerlichen, politischen und kulturellen Rechte missachtet werden; nimmt außerdem mit Besorgnis zur Kenntnis, dass Medienunternehmen und Organisationen der Zivilgesellschaft restriktiven Auflagen an eine erneute Registrierung unterliegen;
4. fordert die staatlichen Stellen Russlands und die örtliche De-facto-Verwaltung nachdrücklich auf, in allen Fällen von Verschwindenlassen, Folter und Menschenrechtsverletzungen durch Polizeikräfte und paramilitärische Einheiten, die seit Februar 2014 auf der Halbinsel Krim im Einsatz sind, gezielte, unparteiische und transparente Ermittlungen einzuleiten;
5. weist darauf hin, dass die Russische Föderation als Besatzungsmacht dafür verantwortlich ist, für die Sicherheit der gesamten Bevölkerung zu sorgen, die Achtung der Menschenrechte, der kulturellen und der religiösen Rechte der autochthonen Tataren und aller anderen Minderheiten auf der Krim sicherzustellen und die Rechtsordnung der Krim aufrechtzuerhalten;
6. erinnert daran, dass Einrichtungen und unabhängigen Sachverständigen der OSZE, der Vereinten Nationen und des Europarats der Zugang zur Halbinsel Krim ganz oder teilweise verweigert wurde und diese Personen daher daran gehindert wurden, die Menschenrechtslage auf der Krim zu beobachten, obwohl sie ein Mandat für diesbezügliche Tätigkeiten haben;
7. fordert die Staatsorgane der Russischen Föderation und die De-facto-Verwaltung der Krim auf, gemäß ihren Verpflichtungen nach dem humanitären Völkerrecht und internationalen Menschenrechtsnormen internationalen Einrichtungen und unabhängigen Sachverständigen der OSZE, der Vereinten Nationen und des Europarats sowie allen nichtstaatlichen Menschenrechtsorganisationen und Nachrichtenmedien, die auf die Krim fahren, sich ein Bild von der Lage auf der Krim machen und darüber berichten wollen, ungehinderten Zugang zur Krim zu gewähren: fordert den Rat und den EAD auf, in dieser Hinsicht Druck auf Russland auszuüben; begrüßt die Entscheidung des Generalsekretärs des Europarats, seinen Sonderbeauftragten für Menschenrechte auf die Krim zu entsenden, zumal dieser Besuch der erste nach der Annexion durch Russland war und nun eine aktuelle Bewertung der Lage vor Ort erbringen soll; sieht den Ergebnissen dieses Besuchs erwartungsvoll entgegen; betont, dass jede internationale Präsenz vor Ort mit der Ukraine koordiniert werden sollte;
8. begrüßt die Initiative der Ukraine, einen Mechanismus internationaler Verhandlungen über die Wiederherstellung der Souveränität der Ukraine über die Krim im Format „Genf plus“ einzurichten, an dem dann auch die EU direkt beteiligt sein sollte; fordert Russland auf, Verhandlungen mit der Ukraine und anderen Parteien darüber aufzunehmen, die Besetzung der Krim zu beenden sowie das Handels- und das Energieembargo und den Ausnahmezustand auf der Krim aufzuheben;
9. missbilligt, dass führende Vertreter der Tataren an einer Rückkehr auf die Krim gehindert und strafrechtlich verfolgt werden und dass andere Mitglieder des Medschlis immer stärker und in nicht hinnehmbarer Weise unter Druck gesetzt werden; bedauert außerdem die ungerechtfertigte Schließung des Fernsehsenders ATR, der unter den Krimtataren sehr viele Zuschauer hat; fordert die Kommission auf, die notwendige finanzielle Unterstützung auszuweiten, die erforderlich ist, um den Betrieb dieses Senders und den Fortbestand anderer Medien von der Krim auf dem ukrainischen Festland zu sichern; erachtet die Schließung krimtatarischer Schulen, die Auflösung krimtatarischer Schulklassen und die Einschränkungen beim Gebrauch der krimtatarischen Sprache als schwerwiegende Beschneidung der grundlegenden Rechte der Krimtataren, und verurteilt ebenso die Verbannung der ukrainischen Sprache aus dem öffentlichen Raum;
10. fordert, den multikulturellen Charakter der Krim zu erhalten und die Sprache und die unverwechselbare Kultur der ukrainischen und tatarischen Minderheit und anderer Minderheiten uneingeschränkt zu achten;
11. missbilligt die Maßnahmen der De-facto-Verwaltung, mit denen sie die Tätigkeit des Medschlis des krimtatarischen Volkes – des höchsten Exekutiv- und Repräsentativorgans der Krimtataren – zu unterbinden gedenkt, indem sie die Zugänge zu den Räumlichkeiten sperrt, Eigentum beschlagnahmt und andere Akte der Einschüchterung durchführen lässt;
12. verurteilt, dass regelmäßig in scharfer Form gegen unabhängige Medien, Journalisten und Aktivisten der Zivilgesellschaft auf der Krim vorgegangen wird; missbilligt, dass die Russische Föderation in großem Ausmaß russische Pässe an ukrainische Staatsbürger ausgibt; missbilligt gleichfalls die Praxis der De-facto-Verwaltung, den Bewohnern der Krim die russische Staatsbürgerschaft aufzunötigen;
13. bekräftigt seine Unterstützung des Beschlusses der EU, die Einfuhr von Waren, die von der Krim stammen, zu verbieten, sofern ihnen keine Ursprungsbescheinigung der ukrainischen Behörden beigefügt ist, und auch des Beschlusses über restriktive Maßnahmen in Bezug auf die Ausfuhr bestimmter Güter und Technologien auf die Krim, Investitionen auf der Krim, den Handel mit der Krim und Dienstleistungen auf der Krim; fordert den Rat auf, diese Sanktionen beizubehalten, bis die Krim wieder vollständig in die Rechtsordnung der Ukraine eingegliedert worden ist;
14. fordert die Russische Föderation auf, alle Fälle von Folter von rechtswidrig inhaftierten Gefangenen auf der Krim zu untersuchen, Häftlinge wie Oleh Senzow und Olexander Koltschenko sowie Ahtem Çiygoz, den stellvertretenden Vorsitzenden des Medschlis, Mustafa Degermenci und Ali Asanov freizulassen, die auf der Krim verhaftet wurden, weil sie friedlich gegen die Besatzung protestiert hatten, und ihre unversehrte Rückkehr in die Ukraine zu garantieren; fordert die Russische Föderation nachdrücklich auf, der politisch motivierten Strafverfolgung von Dissidenten und Bürgerrechtlern ein Ende zu setzen; verurteilt, dass sie anschließend nach Russland verbracht und gezwungen wurden, die russische Staatsbürgerschaft anzunehmen;
15. verurteilt die Militarisierung der Halbinsel Krim, die mit erheblichen Beeinträchtigungen der Wirtschaft und des gesellschaftlichen Lebens einhergeht, und die Drohungen Russlands, Kernwaffen auf der Krim zu stationieren, was eine massive Bedrohung der Sicherheit in der Region, Europa und der Welt darstellt; bekräftigt seine Forderung nach einem Rückzug aller russischen Streitkräfte von der Krim und aus der Ostukraine;
16. betont, dass die wirtschaftliche Zusammenarbeit und die Lieferung von Waren und die Erbringung von Dienstleistungen zwischen der Ukraine der vorübergehend besetzten Halbinsel Krim im Einklang mit der Rechtsordnung der Ukraine erfolgen und von allen Seiten eingehalten werden sollte, damit das Leben der Bevölkerung auf der Krim nicht beeinträchtigt wird; fordert die Behörden auf, im Fall der Missachtung dieser Vorschriften Ermittlungen aufzunehmen und derartige Verstöße zu unterbinden;
17. erklärt sich zutiefst besorgt über die Lage von LGBTI-Personen auf der Krim, die sich seit der Annexion durch Russland erheblich verschlechtert hat, und über repressive Maßnahmen und Bedrohungen durch die De-facto-Verwaltung und paramilitärische Gruppen;
18. beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung der VP/HR, dem Rat, der Kommission und den Regierungen und Parlamenten der Mitgliedstaaten sowie der Regierung und dem Parlament der Ukraine, dem Europarat, der OSZE, dem Präsidenten, der Regierung und dem Parlament der Russischen Föderation und dem Medschlis des krimtatarischen Volkes zu übermitteln.