Entschließung des Europäischen Parlaments vom 10. März 2016 zu Ägypten, insbesondere dem Fall Giulio Regeni (2016/2608(RSP))
Das Europäische Parlament,
– unter Hinweis auf seine früheren Entschließungen zu Ägypten, insbesondere jene vom 17. Dezember 2015(1) und vom 15. Januar 2015(2),
– unter Hinweis auf die Schlussfolgerungen des Rates (Auswärtige Angelegenheiten) vom 21. August 2013 und vom 10. Februar 2014 zu Ägypten,
– unter Hinweis auf das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und Ägypten,
– unter Hinweis auf die EU-Leitlinien zu Todesstrafe, Folter, Meinungsfreiheit und Menschenrechtsverfechtern,
– unter Hinweis auf die Antwort der Vizepräsidentin und Hohen Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik (VP/HR) vom 27. Oktober 2015 auf die schriftliche Anfrage E-010476/2015 zur militärischen Unterstützung der EU und der Mitgliedstaaten für Ägypten,
– unter Hinweis auf die ägyptische Verfassung, insbesondere auf die Artikel 52 (zur Folter) und 93 (zum verbindlichen Charakter der internationalen Menschenrechtsnormen),
– unter Hinweis auf den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte und das Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Folter, zu deren Vertragsparteien Ägypten gehört,
– unter Hinweis auf die Erklärung der ägyptischen Kommission für Rechte und Freiheit, dass im Jahr 2015 insgesamt 1700 Personen, die sich in den Händen staatlicher Sicherheitskräfte befunden hätten, verschwunden seien;
– gestützt auf Artikel 135 Absatz 5 und Artikel 123 Absatz 4 seiner Geschäftsordnung,
A. in der Erwägung, dass nach den vorliegenden Informationen Giulio Regeni, ein 28-jähriger italienischer Doktorand von der Universität Cambridge, am 25. Januar 2016 verschwand, nachdem er seine Wohnung in Kairo verlassen hatte; in der Erwägung, dass sein Leichnam am 3. Februar 2016 an einer Straße am Stadtrand von Kairo gefunden wurde;
B. in der Erwägung, dass die ägyptischen Staatsorgane eine Autopsie anordneten, bevor sie den Leichnam nach Italien überführten, wo italienische Ermittler eine weitere Autopsie durchführten; in der Erwägung, dass die Autopsiebefunde noch nicht veröffentlicht wurden; in der Erwägung, dass die ägyptischen Staatsorgane zusicherten, sie hätten in diesem Mordfall nichts zu verbergen, seien selbst an der Wahrheitsfindung interessiert und bereit, bei den laufenden Ermittlungen mit ihren italienischen Kollegen uneingeschränkt zusammenzuarbeiten;
C. in der Erwägung, dass laut Medienberichten und nach Angaben des italienischen Botschafters in Kairo Giulio Regeni vor seiner Ermordung nachweislich brutal zusammengeschlagen und auf mannigfaltige Weise gefoltert wurde; in der Erwägung, dass der Leichnam nach den Worten des italienischen Innenministers Spuren unmenschlicher, nicht hinnehmbarer Gewalt zeige, die nahelege, dass die Täter wie Tiere vorgegangen seien;
D. in der Erwägung, dass Giulio Regeni in Kairo an einer Studie über die Entwicklung der unabhängigen Gewerkschaften im Ägypten der Zeit nach Mubarak und Mursi arbeitete und in Kontakt mit Regierungsgegnern stand;
E. in der Erwägung, dass der Fall Giulio Regeni ein weiterer in der langen Liste der Verschleppungen in Ägypten seit Juli 2013 ist; in der Erwägung, dass diese Verschleppungen ungestraft bleiben;
F. in der Erwägung, dass die amtierende ägyptische Regierung Regierungskritiker, zu denen Journalisten, Menschenrechtsverfechter und Mitglieder politischer und sozialer Bewegungen zählen, im großen Stil willkürlich inhaftiert; in der Erwägung, dass den ägyptischen Staatsorganen zufolge seit Juli 2013 mehr als 22 000 Personen inhaftiert wurden;
G. in der Erwägung, dass das El-Nadim-Zentrum für die Betreuung und Rehabilitation von Gewaltopfern aufgrund falscher Anschuldigungen, es habe dort Verstöße gegen die Gesundheitsordnung gegeben, von der Schließung durch die Staatsorgane bedroht ist; in der Erwägung, dass das Zentrum eine wesentliche Rolle bei der Behandlung von Gewalt- und Folteropfern spielt und für Angaben über Folterungen, Tötungen und die schlimmsten Misshandlungen Inhaftierter unverzichtbar ist;
H. in der Erwägung, dass Ägypten seit langem ein strategischer Partner der Europäischen Union ist; in der Erwägung, dass der Umfang des Engagements der EU für Ägypten entsprechend dem Konzept „Mehr für mehr“ der Europäischen Nachbarschaftspolitik anreizbasiert sein und von Fortschritten bei der Reform der demokratischen Einrichtungen, der Rechtsstaatlichkeit und den Menschenrechten abhängen sollte; in der Erwägung, dass der Rat (Auswärtige Angelegenheiten) am 21. August 2013 die VP/HR mit der Aufgabe betraute, die Unterstützung der EU für Ägypten auf den Prüfstand zu stellen; in der Erwägung, dass der Rat (Auswärtige Angelegenheiten) beschloss, die Zusammenarbeit der EU mit Ägypten entsprechend den Entwicklungen vor Ort neu auszurichten;
I. in der Erwägung, dass es in den Schlussfolgerungen des Rates (Auswärtige Angelegenheiten) vom 21. August 2013 heißt, die „Mitgliedstaaten sind ferner übereingekommen, die Genehmigungen für die Ausfuhr von Ausrüstungen, die zur internen Repression genutzt werden könnten, nach Ägypten auszusetzen und von Ausrüstungen, die unter den Gemeinsamen Standpunkt 2008/944/GASP fallen, zu überprüfen und ihre Unterstützung für Ägypten in Sicherheitsfragen auf den Prüfstand zu stellen“; in der Erwägung, dass der Rat (Auswärtige Angelegenheiten) besagte Schlussfolgerungen im Februar 2014 bekräftigte; in der Erwägung, dass die VP/HR am 27. Oktober 2015 in ihrer Antwort auf die schriftliche Anfrage E-010476/2015 bestätigte, mit diesen Schlussfolgerungen sei „eine politische Verpflichtung gegen die militärische Unterstützung Ägyptens eingegangen“ worden;
J. in der Erwägung, dass in der 2014 verabschiedeten ägyptischen Verfassung Grundrechte und -freiheiten verankert sind;
K. in der Erwägung, dass Ägypten mit Terrorakten verschiedener dschihadistischer Organisationen konfrontiert ist, die in dem Land und insbesondere auf der Sinai-Halbinsel tätig sind und Verbindungen zum „Islamischen Staat“ und weiteren Terrororganisationen haben, die an der Krise in Libyen aktiv beteiligt sind; in der Erwägung, dass sich der andauernde Konflikt in Libyen unmittelbar auf die Sicherheit Ägyptens auswirkt; in der Erwägung, dass die aktuelle Krise der Europäischen Union und insbesondere Italien große Sorgen bereitet;
1. verurteilt nachdrücklich die Folterung und Ermordung des Unionsbürgers Giulio Regeni unter verdächtigen Umständen und spricht den Hinterbliebenen seine tief empfundene Anteilnahme aus;
2. fordert die ägyptischen Staatsorgane auf, den italienischen Behörden alle Unterlagen und Informationen zur Verfügung zu stellen, die für eine rasche, transparente und unparteiische Untersuchung des Falls Giulio Regeni im Einklang mit den internationalen Verpflichtungen erforderlich sind, und fordert, dass alles dafür getan wird, die Täter so rasch wie möglich vor Gericht zu stellen;
3. betont mit tiefer Sorge, dass der Fall Giulio Regeni kein Einzelfall ist, sondern im Zusammenhang mit Folterungen, Todesfällen in Haft und Verschleppungen steht, die sich in den letzten Jahren in Ägypten ereigneten, was eindeutig ein Verstoß gegen Artikel 2 des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und Ägypten ist, der besagt, dass die Beziehungen zwischen der EU und Ägypten auf der Wahrung der Grundsätze der Demokratie und der Achtung der grundlegenden Menschenrechte beruhen, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte niedergelegt sind, die ein wesentlicher Bestandteil des Abkommens ist; fordert daher den Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD) und die Mitgliedstaaten auf, gegenüber den ägyptischen Stellen die gängige Praxis der Verschleppung und Folter zur Sprache zu bringen und auf eine wirksame Reform des Sicherheitsapparats und der Justiz Ägyptens zu dringen;
4. ist zutiefst besorgt über die drohende Zwangsschließung des El-Nadim-Zentrums für die Rehabilitation von Gewalt- und Folteropfern; fordert, dass die Schließungsanordnung rasch widerrufen wird;
5. ist besorgt darüber, dass die ägyptische Kommission für Rechte und Freiheit weiterhin für ihre offensichtliche Mitwirkung an der Kampagne „Stoppt Verschleppung“ in Ägypten schikaniert wird;
6. weist die ägyptischen Staatsorgane auf ihre nationalen und internationalen rechtlichen Verpflichtungen hin und fordert sie auf, den Schutz und die Förderung der Menschenrechte vorrangig zu behandeln und dafür zu sorgen, dass Verstöße gegen die Menschenrechte geahndet werden; fordert erneut, alle Personen, die nur deshalb verurteilt und inhaftiert wurden, weil sie ihr Recht auf freie Meinungsäußerung und friedliche Versammlungen wahrgenommen haben, und zu denen auch Menschenrechtsverfechter, Medienvertreter und Blogger zählen, sofort und bedingungslos freizulassen; fordert die ägyptischen Staatsorgane auf, das Recht auf ein faires Verfahren im Einklang mit den internationalen Normen sicherzustellen;
7. fordert die Regierung Ägyptens auf, dafür zu sorgen, dass in- und ausländische zivilgesellschaftliche Organisationen und unabhängige Gewerkschaften ihrer Tätigkeit in Ägypten ungehindert und ohne Einmischung seitens der Regierung oder Einschüchterung nachgehen können; fordert die ägyptischen Staatsorgane auf, die gegen zahlreiche führende ägyptische Menschenrechtsverfechter ausgesprochenen Reiseverbote aufzuheben;
8. geht davon aus, dass die am 14./15. Januar 2014 verabschiedete neue Verfassung und insbesondere die Artikel 52, 73 und 93 das Land beim Übergang zur Demokratie wesentlich voranbringen;
9. nimmt die Bildung der neuen Volksversammlung zur Kenntnis und fordert sie auf, dringend das zur Bekämpfung jeglicher Form friedlicher Regimekritik eingesetzte repressive Demonstrationsgesetz vom November 2013 ebenso aufzuheben wie das Versammlungsgesetz von 1914; fordert ferner die Überprüfung aller sonstigen repressiven Rechtsvorschriften, mit deren Verabschiedung gegen die ägyptische Verfassung verstoßen wurde, darunter des Gesetzes über Terrorakte und des Gesetzes über terroristische Vereinigungen, die für interne Repressalien missbraucht werden könnten, statt die kollektive Sicherheit zu erhöhen; hebt hervor, dass es bereit ist, gemeinsam mit den Staatsorganen des Landes auszuloten, inwieweit ein Kapazitätenaufbauprogramm für das ägyptische Parlament ausgearbeitet werden kann;
10. pocht darauf, dass nur dann auf Dauer für Stabilität und Sicherheit in Ägypten gesorgt werden kann, wenn eine wahrhaft pluralistische Gesellschaft aufgebaut wird, in der unterschiedliche Ansichten und Lebensweisen respektiert werden, und fordert die ägyptischen Staatsorgane auf, sich zu einem Aussöhnungsdialog zu verpflichten, der alle auf Gewalt verzichtenden Kräfte und damit auch die nicht gewalttätigen Islamisten umfasst, um das Vertrauen in die Politik und die Wirtschaft im Rahmen eines alle Seiten einbeziehenden politischen Prozesses wiederherzustellen;
11. betont, dass die Europäische Union der Zusammenarbeit mit Ägypten als wichtigem Nachbarn und Partner ebenso große Bedeutung beimisst wie dem Stellenwert des Landes für die Sicherstellung der Stabilität in der Region; teilt die Besorgnis des ägyptischen Volkes über die wirtschaftlichen, politischen und sicherheitspolitischen Probleme, mit denen ihr Land und die gesamte Region konfrontiert sind; verurteilt die Terroranschläge gegen ägyptische Zivilisten und Angehörige der Streitkräfte;
12. fordert die EU und insbesondere die VP/HR sowie die Delegation der EU in Kairo auf, für einen regelmäßigen Austausch mit Menschenrechtsverfechtern und sonstigen Vertretern abweichender Meinungen zu sorgen, gefährdete oder inhaftierte Personen zu unterstützen und die Verfahren gegen sie umfassend zu beobachten;
13. fordert die Mitgliedstaaten eindringlich auf, sich uneingeschränkt an die Schlussfolgerungen des Rates (Auswärtige Angelegenheiten) vom August 2013 zur Ausfuhr von Militärtechnologie und Militärgütern und zur Sicherheitszusammenarbeit zu halten; fordert, die Ausfuhr von Überwachungsausrüstungen auszusetzen, sofern es Belege dafür gibt, dass sie für Menschenrechtsverletzungen eingesetzt werden; fordert von der VP/HR einen Bericht über den Stand der militärischen und sicherheitspolitischen Zusammenarbeit der EU-Mitgliedstaaten mit Ägypten und die Vorlage eines in enger Abstimmung mit dem Europäischen Parlament ausgearbeiteten Fahrplans mit konkreten Schritten, die die ägyptischen Staatsorgane unternehmen müssen, damit die Menschenrechtslage beträchtlich verbessert und eine umfassende Justizreform durchgeführt wird, bevor eine Neubewertung der Schlussfolgerungen des Rates (Auswärtige Angelegenheiten) vom August 2013 in Betracht gezogen werden kann;
14. beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung dem Rat, der Kommission, der Vizepräsidentin der Kommission und Hohen Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, den Regierungen und Parlamenten der Mitgliedstaaten, dem Präsidenten und der Regierung der Arabischen Republik Ägypten und der Afrikanischen Kommission für die Menschenrechte und Rechte der Völker zu übermitteln.