Beschluss des Europäischen Parlaments vom 25. Oktober 2016 über den Antrag auf Aufhebung der Immunität von Jean-Marie Le Pen (2016/2108(IMM))
Das Europäische Parlament,
– befasst mit zwei von der Generalstaatsanwältin beim Berufungsgerichtshof Paris am 14. März 2016 übermittelten und am 8. Juni 2016 im Plenum bekannt gegebenen Anträgen auf Aufhebung der Immunität von Jean-Marie Le Pen im Zusammenhang mit zwei vor den Untersuchungsrichtern am Landgericht Paris anhängigen Verfahren wegen Aufrufs zum Rassenhass (2211/15/21 und 2226/15/9), welche beide denselben Sachverhalt betreffen,
– nach Anhörung von Jean-Marie Le Pen gemäß Artikel 9 Absatz 5 seiner Geschäftsordnung,
– gestützt auf die Artikel 8 und 9 des Protokolls Nr. 7 über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union und auf Artikel 6 Absatz 2 des Aktes vom 20. September 1976 zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Mitglieder des Europäischen Parlaments,
– unter Hinweis auf die Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 12. Mai 1964, 10. Juli 1986, 15. und 21. Oktober 2008, 19. März 2010, 6. September 2011 und 17. Januar 2013(1),
– unter Hinweis auf Artikel 26 der Verfassung der Französischen Republik,
– gestützt auf Artikel 5 Absatz 2, Artikel 6 Absatz 1 und Artikel 9 seiner Geschäftsordnung,
– unter Hinweis auf den Bericht des Rechtsausschusses (A8-0301/2016),
Α. in der Erwägung, dass zwei Untersuchungsrichter am Landgericht Paris die Aufhebung der parlamentarischen Immunität von Jean-Marie Le Pen im Zusammenhang mit einer angeblichen Straftat beantragt haben;
Β. in der Erwägung, dass gemäß Artikel 9 des Protokolls (Nr. 7) über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union den Mitgliedern des Europäischen Parlaments im Hoheitsgebiet ihres eigenen Staates die den Parlamentsmitgliedern zuerkannte Unverletzlichkeit zusteht;
C. in der Erwägung, dass gemäß Artikel 26 der Verfassung der Französischen Republik „kein Mitglied des Parlaments […] wegen der in Ausübung seines Mandates geäußerten Meinungen oder seines Abstimmungsverhaltens belangt werden, Gegenstand einer Fahndung sein, verhaftet, in Haft gehalten oder verurteilt werden [darf]“, und dass kein Mitglied des Parlaments ohne parlamentarische Genehmigung „wegen eines Verbrechens oder eines Vergehens verhaftet oder auf andere Weise seiner Freiheit beraubt oder in seiner Freiheit eingeschränkt werden [darf]“;
D. in der Erwägung, dass Mitglieder des Europäischen Parlaments gemäß Artikel 8 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union wegen einer in Ausübung ihres Amtes erfolgten Äußerung oder Abstimmung weder in ein Ermittlungsverfahren verwickelt noch festgenommen oder verfolgt werden dürfen;
E. in der Erwägung, dass mit dieser Bestimmung sichergestellt werden soll, dass die Mitglieder des Europäischen Parlaments grundsätzlich das Recht auf freie Meinungsäußerung haben, dieses Recht jedoch kein Freibrief für Verleumdung, üble Nachrede, Anstachelung zu Hass oder ehrenrührige Behauptungen oder jede andere Äußerung sein darf, die gegen Artikel 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verstößt;
F. in der Erwägung, dass die Bestimmungen zur parlamentarischen Immunität im Lichte der Werte, Ziele und Prinzipien der europäischen Verträge auszulegen sind;
G. in der Erwägung, dass sich diese absolute Immunität im Falle eines Mitglieds des Europäischen Parlaments nicht nur auf die von dem Mitglied in offiziellen Sitzungen des Parlaments geäußerten Meinungen, sondern auch auf andernorts – beispielsweise in den Medien – getätigte Äußerungen erstreckt, sofern ein „Zusammenhang zwischen der erfolgten Äußerung und der parlamentarischen Tätigkeit“ besteht;
H. in der Erwägung, dass Jean-Marie Le Pen beschuldigt wird, in einer am 6. Juni 2014 im Internet veröffentlichten Videoaufnahme einen öffentlichen Aufruf zum Rassenhass gemacht zu haben;
I. in der Erwägung, dass es keinen Zusammenhang zwischen der strittigen Äußerung und der parlamentarischen Tätigkeit von Jean-Marie Le Pen gibt und Jean-Marie Le Pen daher nicht in Ausübung seines Mandats als Mitglied des Europäischen Parlaments gehandelt hat;
J. in der Erwägung, dass es keinen Anhaltspunkt für einen Verdacht auf fumus persecutionis gibt, also den Versuch, die parlamentarische Arbeit von Jean-Marie Le Pen zu behindern;
1. beschließt, die Immunität von Jean-Marie Le Pen aufzuheben;
2. beauftragt seinen Präsidenten, diesen Beschluss und den Bericht seines zuständigen Ausschusses unverzüglich den französischen Behörden zu übermitteln.
Urteil des Gerichtshofs vom 12. Mai 1964, Wagner/Fohrmann und Krier, 101/63, ECLI:EU:C:1964:28; Urteil des Gerichtshofs vom 10. Juli 1986, Wybot/Faure und andere, 149/85, ECLI:EU:C:1986:310; Urteil des Gerichts vom 15. Oktober 2008, Mote/Parlament, T-345/05, ECLI:EU:T:2008:440; Urteil des Gerichtshofs vom 21. Oktober 2008, Marra/De Gregorio und Clemente, C-200/07 und C-201/07, ECLI:EU:C:2008:579; Urteil des Gerichts vom 19. März 2010, Gollnisch/Parlament, T-42/06, ECLI:EU:T:2010:102; Urteil des Gerichtshofs vom 6. September 2011, Patriciello, C-163/10, ECLI: EU:C:2011:543; Urteil des Gerichts vom 17. Januar 2013, Gollnisch/Parlament, T-346/11 und T-347/11, ECLI:EU:T:2013:23.