Beschluss des Europäischen Parlaments vom 25. Oktober 2016 über den Antrag auf Schutz der Vorrechte und der Immunität von Mario Borghezio (2016/2028(IMM))
Das Europäische Parlament,
– befasst mit einem am 5. Januar 2016 von Mario Borghezio übermittelten und am 1. Februar 2016 im Plenum bekannt gegebenen Antrag auf Schutz seiner Vorrechte und seiner Immunität im Zusammenhang mit einem vor dem Gericht von Mailand anhängigen Strafverfahren (Aktenzeichen RGNR Nr. 41838/13 RGNR, RG GIP Nr. 12607/14),
– nach Anhörung von Mario Borghezio gemäß Artikel 9 Absatz 5 seiner Geschäftsordnung,
– gestützt auf die Artikel 8 und 9 des Protokolls Nr. 7 über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union und auf Artikel 6 Absatz 2 des Aktes vom 20. September 1976 zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Mitglieder des Europäischen Parlaments,
– unter Hinweis auf die Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 12. Mai 1964, 10. Juli 1986, 15. und 21. Oktober 2008, 19. März 2010, 6. September 2011 und 17. Januar 2013(1),
— unter Hinweis auf Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe A des italienischen Gesetzes Nr. 205/1993,
— gestützt auf Artikel 5 Absatz 2 und die Artikel 7 und 9 seiner Geschäftsordnung,
– unter Hinweis auf den Bericht des Rechtsausschusses (A8-0312/2016),
A. in der Erwägung, dass ein Mitglied des Europäischen Parlaments, Mario Borghezio, in Verbindung mit einem vor dem Gericht von Mailand gegen ihn anhängigen Strafverfahren den Schutz seiner parlamentarischen Immunität nach Artikel 8 und 9 des Protokolls Nr. 7 beantragt hat; in der Erwägung, dass Mario Borghezio gemäß einer Mitteilung der Staatsanwaltschaft beschuldigt wird, während einer Radiosendung Gedankengut verbreitet zu haben, das sich auf rassische Überlegenheit und Hass aufgrund der Rasse oder ethnischen Hass gründet, was nach Artikel 1 Buchstabe a des italienischen Rechts Nr. 205/1993 strafbar ist;
B. in der Erwägung, dass sich Artikel 8 und 9 des Protokolls Nr. 7 über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union gegenseitig ausschließen(2); in der Erwägung, dass der fragliche Fall allein die mutmaßlich diskriminierenden Meinungsäußerungen eines Mitglieds des Europäischen Parlaments betrifft; in der Erwägung, dass sich daraus allein die Anwendbarkeit von Artikel 8 des Protokolls ergibt;
C. in der Erwägung, dass gemäß Artikel 8 des Protokolls Nr. 7 Mitglieder des Europäischen Parlaments wegen einer in Ausübung ihres Amtes erfolgten Äußerung oder Abstimmung weder in ein Ermittlungsverfahren verwickelt noch festgenommen oder verfolgt werden dürfen;
D. in der Erwägung, dass der Gerichtshof festgestellt hat, dass eine Äußerung eines Mitglieds des Europäischen Parlaments nur dann unter die Immunität fallen kann, wenn sie in Ausübung seines Amtes erfolgt ist, womit das Erfordernis eines Zusammenhangs zwischen der erfolgten Äußerung und der parlamentarischen Tätigkeit impliziert wird; in der Erwägung, dass ein solcher Zusammenhang unmittelbar und in offenkundiger Weise ersichtlich sein muss(3);
E. in der Erwägung, dass Mario Borghezio in der betreffenden Radiosendung aufgefordert wurde, sich zur Ernennung und zur Kompetenz eines neuen Mitglieds der italienischen Regierung – der neu ernannten Ministerin für Integration – zu äußern;
F. in der Erwägung, dass aus den Tatsachen des Falles, die in den dem Rechtausschuss übermittelten Dokumenten und in der Anhörung vor dem Ausschuss dargelegt wurden, deutlich wird, dass die von Mario Borghezio in dem Interview vertretenen Ansichten keine direkte und offensichtliche Verbindung mit seinen parlamentarischen Tätigkeiten aufweisen;
G. in der Erwägung, dass die fraglichen Äußerungen über den Ton hinausgingen, der in politischen Debatten üblich ist, und darüber hinaus ihrer Art nach eines Parlamentariers höchst unwürdig waren; in der Erwägung, dass sie im Widerspruch zu Artikel 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union stehen und daher nicht davon ausgegangen werden kann, dass sie im Rahmen der Ausübung des Mandats eines Mitglieds des Europäischen Parlaments getätigt wurden;
H. in der Erwägung, dass daher nicht die Auffassung vertreten werden kann, dass Mario Borghezio in Ausübung seines Amtes als Mitglied des Europäischen Parlaments gehandelt hat;
I. in der Erwägung, dass der Gerichtshof festgestellt hat, dass in dem Fall, dass gegen ein Mitglied des Europäischen Parlaments Klage bei einem nationalen Gericht erhoben und diesem mitgeteilt wird, dass ein Verfahren zum Schutz der Vorrechte und Befreiungen des Abgeordneten, wie es in der Geschäftsordnung des Parlaments vorgesehen ist, eingeleitet worden ist, das Gericht das Gerichtsverfahren aussetzen und das Parlament ersuchen muss, so rasch wie möglich Stellung zu nehmen(4); in der Erwägung, dass es das Gericht von Mailand, vor dem das Gerichtsverfahren gegen Mario Borghezio eingeleitet wurde, abgelehnt hat, das Verfahren auszusetzen, und angeordnet hat, dieses trotz eines von Mario Borghezio auf der Grundlage der einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofs gestellten Antrags fortzusetzen;
1. beschließt, die Vorrechte und die Immunität von Mario Borghezio nicht zu schützen;
2. bedauert, dass es das Gericht von Mailand trotz der einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofs abgelehnt hat, das gegen Mario Borghezio angestrengte Verfahren auszusetzen;
3. erwartet von den italienischen Behörden, dass sie den vom Gerichtshof festgehaltenen Grundsatz, wonach das zuständige Gericht das Gerichtsverfahren aussetzen muss, wenn ein Antrag auf Schutz der Vorrechte und der Immunität eines Mitglied des Europäischen Parlaments gestellt wurde, uneingeschränkt befolgen;
4. beauftragt seinen Präsidenten, diesen Beschluss und den Bericht seines zuständigen Ausschusses unverzüglich der zuständigen Behörde der Italienischen Republik und Mario Borghezio zu übermitteln.
Urteil des Gerichtshofs vom 12 Mai 1964, Wagner/Fohrmann und Krier, 101/63, ECLI:EU:C:1964:28; Urteil des Gerichtshofs vom 10. Juli 1986, Wybot/Faure und andere, 149/85, ECLI:EU:C:1986:310; Urteil des Gerichts vom 15. Oktober 2008, Mote/Parlament, T-345/05, ECLI:EU:T:2008:440; Urteil des Gerichtshofs vom 21. Oktober 2008, Marra/De Gregorio und Clemente, C-200/07 und C-201/07, ECLI:EU:C:2008:579; Urteil des Gerichts vom 19. März 2010, Gollnisch/Parlament, T-42/06, ECLI:EU:T:2010:102; Urteil des Gerichtshofs vom 6. September 2011, Patriciello, C-163/10, ECLI: EU:C:2011:543; Urteil des Gerichts vom 17. Januar 2013, Gollnisch/Parlament, T-346/11 und T-347/11, ECLI:EU:T:2013:23.