Beschluss des Europäischen Parlaments vom 22. November 2016 über den Antrag auf Aufhebung der Immunität von Jean-François Jalkh (2016/2115(IMM))
Das Europäische Parlament,
– befasst mit einem am 14. April 2016 vom französischen Justizminister übermittelten und am 8. Juni 2016 im Plenum bekannt gegebenen Antrag auf Aufhebung der Immunität von Jean-François Jalkh im Zusammenhang mit einem beim erstinstanzlichen Gericht Nanterre (Tribunal de Grande Instance de Nanterre) auf Strafantrag des Vereins „Maison des potes – Maison de l'égalité“ wegen öffentlicher Anstiftung rassistisch oder religiös motivierter Diskriminierung eingeleiteten Ermittlungsverfahren (Aktennr. 14142000183),
– nach Anhörung von Jean-François Jalkh gemäß Artikel 9 Absatz 5 seiner Geschäftsordnung,
– gestützt auf die Artikel 8 und 9 des Protokolls Nr. 7 über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union und auf Artikel 6 Absatz 2 des Aktes vom 20. September 1976 zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Mitglieder des Europäischen Parlaments,
– unter Hinweis auf die Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 12. Mai 1964, 10. Juli 1986, 15. und 21. Oktober 2008, 19. März 2010, 6. September 2011 und 17. Januar 2013(1),
– unter Hinweis auf Artikel 26 der Verfassung der Französischen Republik, geändert durch das Verfassungsgesetz Nr. 95-880 vom 4. August 1995,
– gestützt auf Artikel 5 Absatz 2, Artikel 6 Absatz 1 und Artikel 9 seiner Geschäftsordnung,
– unter Hinweis auf den Bericht des Rechtsausschusses (A8-0318/2016),
A. in der Erwägung, dass die Staatsanwaltschaft beim Berufungsgerichtshof Versailles im Zusammenhang mit der Verfolgung einer mutmaßlichen Straftat die Aufhebung der parlamentarischen Immunität von Jean-François Jalkh, Mitglied des Europäischen Parlaments, beantragt hat;
B. in der Erwägung, dass es bei der Aufhebung der Immunität von Jean-François Jalkh um eine mutmaßliche Straftat wegen öffentlicher Anstiftung zur Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit, der Rasse oder Religion in Form von mündlichen, schriftlichen, bildlichen oder durch elektronische Kommunikationsmittel öffentlich verbreiteten Äußerungen durch unbekannt geht, was nach Artikel 24 Absatz 8, Artikel 23 Absatz 1 und Artikel 42 des Gesetzes vom 29. Juli 1881 und nach Artikel 93 Absatz 3 des Gesetzes Nr. 82-652 vom 29. Juli 1982 eine Straftat darstellt und nach Artikel 24 Absatz 8, 10, 11 und 12 des Gesetzes vom 29. Juli 1881 und nach Artikel 131-26 Absatz 2 und 3 Strafgesetzbuch zu ahnden ist;
C. in der Erwägung, dass der Verein „Maison des potes – Maison de l’égalité“ beim erstinstanzlichen Gericht Nanterre (Tribunal de Grande Instance de Nanterre) am 22. Mai 2014 Strafantrag gegen Jean-François Jalkh gestellt hat;
D. in der Erwägung, dass sich der Strafantrag auf Äußerungen gründet, die in einer am 19. September 2013 veröffentlichten Broschüre mit dem Titel „Petit guide pratique de l'élu municipal Front national“ (Kleiner praktischer Leitfaden für Gemeinderatsmitglieder der Partei „Front National“) erschienen sind und am 30. November 2013 auf der offiziellen Website des Front National ins Netz gestellt wurden mit der Aufforderung an die nach den Wahlen vom 23. und 30. März 2014 in Gemeinderäten vertretenen Mitglieder der Partei „Front National“, in der ersten Sitzung der neuen Gemeinderäte zu empfehlen, sich bei der Zuweisung von Sozialwohnungen für eine „nationale Priorität“ für Franzosen („priorité nationale“) einzusetzen; in der Erwägung, dass Jean-François Jalkh als Herausgeber der Veröffentlichungen des Front National tätig war und die redaktionelle Verantwortung für dessen Webseiten trug;
E. in der Erwägung, dass gemäß Artikel 9 des Protokolls Nr. 7 über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union Mitgliedern des Europäischen Parlaments im Hoheitsgebiet ihres eigenen Staates die den Parlamentsmitgliedern zuerkannte Unverletzlichkeit zusteht;
F. in der Erwägung, dass gemäß Artikel 26 der Verfassung der Französischen Republik kein Mitglied des französischen Parlaments wegen der in Ausübung seines Amtes zum Ausdruck gebrachten Meinungen oder abgegebenen Stimmen verfolgt, verhaftet, in Haft gehalten oder verurteilt werden darf;
G. in der Erwägung, dass der Umfang der Immunität, der den Mitgliedern des französischen Parlaments gewährt wird, dem Umfang der Immunität entspricht, der den Mitgliedern des Europäischen Parlaments gemäß Artikel 8 des Protokolls Nr. 7 über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union gewährt wird; in der Erwägung, dass der Gerichtshof festgestellt hat, dass die Äußerung eines Mitglieds des Europäischen Parlaments nur dann unter die Immunität fallen kann, wenn sie in Ausübung seines Amtes erfolgt, was nichts anderes bedeutet, als dass ein Zusammenhang zwischen der erfolgten Äußerung und der parlamentarischen Tätigkeit bestehen muss; in der Erwägung, dass ein solcher Zusammenhang zudem unmittelbar und offensichtlich sein muss;
H. in der Erwägung, dass Jean-François Jalkh kein Mitglied des Europäischen Parlaments war, als die mutmaßliche Straftat begangen wurde, nämlich am 19. September bzw. am 30. November 2013, die mutmaßlich belastenden Unterlagen jedoch am 23. Juni und am 2. Oktober 2014 noch zur Konsultation online einsehbar waren für jeden, der davon Kenntnis nehmen wollte;
I. in der Erwägung, dass die Anschuldigungen offensichtlich nicht in Zusammenhang mit dem Amt von Jean-François Jalkh als Mitglied des Europäischen Parlaments stehen, sondern der fragliche Vorgang rein nationale oder regionale Fragen betrifft, da die Äußerungen sich an die künftigen Gemeinderatsmitglieder richteten, und zwar im Hinblick auf die Kommunalwahlen vom 23. und 30. März 2014 in Frankreich, und mit seiner Position als Herausgeber der Webseiten des Front National, dem die redaktionelle Verantwortung für diese Webseiten oblag, in Zusammenhang stehen;
J. in der Erwägung, dass es bei der Beschuldigung nicht um eine in Ausübung des Amtes als Mitglied des Europäischen Parlaments erfolgte Äußerung oder abgegebene Stimme im Sinne von Artikel 8 des Protokolls Nr. 7 über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union geht;
K. in der Erwägung, dass nicht zu vermuten steht, mit den gerichtlichen Ermittlungen, die nach einem Antrag des Vereins „Maison des potes – Maison de l’égalité“ eingeleitet wurden, werde versucht, die parlamentarische Arbeit von Jean-François Jalkh zu behindern (fumus persecutionis), zumal dieser Antrag eingereicht wurde, bevor er sein Amt als Mitglied im Europäischen Parlament angetreten hatte;
1. beschließt, die Immunität von Jean-François Jalkh aufzuheben;
2. beauftragt seinen Präsidenten, diesen Beschluss und den Bericht seines zuständigen Ausschusses unverzüglich dem Justizminister der Französischen Republik und Jean-François Jalkh zu übermitteln.
Urteil des Gerichtshofs vom 12 Mai 1964, Wagner/Fohrmann und Krier, 101/63, ECLI:EU:C:1964:28; Urteil des Gerichtshofs vom 10. Juli 1986, Wybot/Faure und andere, 149/85, ECLI:EU:C:1986:310; Urteil des Gerichts vom 15. Oktober 2008, Mote/Parlament, T-345/05, ECLI:EU:T:2008:440; Urteil des Gerichtshofs vom 21. Oktober 2008, Marra/De Gregorio und Clemente, C200/07 und C-201/07, ECLI:EU:C:2008:579; Urteil des Gerichts vom 19. März 2010, Gollnisch/Parlament, T-42/06, ECLI:EU:T:2010:102; Urteil des Gerichtshofs vom 6. September 2011, Patriciello, C-163/10, ECLI: EU:C:2011:543; Urteil des Gerichts vom 17. Januar 2013, Gollnisch/Parlament, T-346/11 und T-347/11, ECLI:EU:T:2013:23.