Beschluss des Europäischen Parlaments vom 1. Juni 2017 über den Antrag auf Aufhebung der Immunität von Béla Kovács (2016/2266(IMM))
Das Europäische Parlament,
– befasst mit einem am 19. September 2016 von Dr. Péter Polt, Generalstaatsanwalt Ungarns, übermittelten und am 3. Oktober 2016 im Plenum bekannt gegebenen Antrag auf Aufhebung der Immunität von Béla Kovács im Zusammenhang mit einem von der Zentralen Ermittelnden Staatsanwaltschaft gegen ihn eingeleiteten Strafverfahren,
– nach Einladung von Béla Kovács zu Anhörungen gemäß Artikel 9 Absatz 6 seiner Geschäftsordnung am 12. Januar, 30. Januar und 22. März 2017,
– gestützt auf die Artikel 8 und 9 des Protokolls Nr. 7 über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union und auf Artikel 6 Absatz 2 des Aktes vom 20. September 1976 zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Mitglieder des Europäischen Parlaments,
– unter Hinweis auf die Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 12. Mai 1964, 10. Juli 1986, 15. und 21. Oktober 2008, 19. März 2010, 6. September 2011 und 17. Januar 2013(1),
– unter Hinweis auf Artikel 4 Absatz 2 des ungarischen Grundgesetzes, Artikel 10 Absatz 2 und Artikel 12 Absatz 1 des Gesetzes LVII/2004 zum Rechtsstatus der ungarischen Mitglieder des Europäischen Parlaments und auf Artikel 74 Absätze 1 und 3 des Gesetzes XXXVI/2012 über das ungarische Parlament,
– gestützt auf Artikel 5 Absatz 2, Artikel 6 Absatz 1 und Artikel 9 seiner Geschäftsordnung,
– unter Hinweis auf den Bericht des Rechtsausschusses (A8-0203/2017),
A. in der Erwägung, dass der Generalstaatsanwalt Ungarns darum ersucht hat, die Immunität von Béla Kovács, Mitglied des Europäischen Parlaments, aufzuheben, damit Ermittlungen durchgeführt werden können, deren Ziel es ist, festzustellen, ob gegen Béla Kovács Anklage wegen der mit erheblichen finanziellen Schäden einhergehenden betrügerischen Verwendung von Haushaltsmitteln gemäß § 396 Absatz 1 Buchstabe a des ungarischen Strafgesetzbuchs und wegen der fortgesetzten Verwendung gefälschter privater Urkunden gemäß § 345 des ungarischen Strafgesetzbuchs Anklage zu erheben ist; in der Erwägung, dass gemäß dem letztgenannten Paragraphen eine Person, die ein unechtes oder gefälschtes Dokument oder ein Dokument mit nicht der Wahrheit entsprechendem Inhalt verwendet, um das Bestehen, die Änderung oder das Erlöschen eines Rechts oder einer Verpflichtung nachzuweisen, wegen dieses Vergehens mit bis zu einem Jahr Freiheitsentzug zu bestrafen ist;
B. in der Erwägung, dass gemäß Artikel 9 des Protokolls Nr. 7 über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union Mitgliedern des Europäischen Parlaments im Hoheitsgebiet ihres eigenen Staates die den Parlamentsmitgliedern zuerkannte Unverletzlichkeit zusteht;
C. in der Erwägung, dass die Mitglieder des ungarischen Parlaments gemäß Artikel 4 Absatz 2 des ungarischen Grundgesetzes Immunität genießen; in der Erwägung, dass die Mitglieder des Europäischen Parlaments gemäß Artikel 10 Absatz 2 des Gesetzes LVII/2004 über die Rechtsstellung der ungarischen Mitglieder des Europäischen Parlaments die gleiche Immunität wie die Mitglieder des ungarischen Parlaments genießen und dass gemäß Artikel 12 Absatz 1 dieses Gesetzes das Europäische Parlament über die Aufhebung der Immunität der Mitglieder des Europäischen Parlaments entscheidet; in der Erwägung, dass gemäß Artikel 74 Absatz 1 des Gesetzes Nr. XXXVI/2012 über das ungarische Parlament ein Strafverfahren und – wenn in Bezug auf den jeweils vorliegenden Fall nicht freiwillig auf die Immunität verzichtet wird – ein Ordnungswidrigkeitsverfahren nur dann eingeleitet bzw. durchgeführt werden kann, wenn vorab die Zustimmung des ungarischen Parlaments eingeholt worden ist; in der Erwägung, dass gemäß Artikel 74 Absatz 3 dieses Gesetzes der Antrag auf Aufhebung der Immunität bis zur Einreichung der Anklageschrift vom Generalstaatsanwalt gestellt wird;
D. in der Erwägung, dass die Abgeordneten gemäß Artikel 21 Absatz 1 und 2 des Beschlusses des Europäischen Parlaments vom 28. September 2005 zur Annahme des Abgeordnetenstatuts des Europäischen Parlaments (2005/684/EG, Euratom)(2) Anspruch auf Unterstützung durch persönliche Mitarbeiter haben, die frei von ihnen ausgewählt werden, wobei das Parlament die durch ihre Beschäftigung tatsächlich anfallenden Kosten trägt;
E. in der Erwägung, dass gemäß Artikel 34 Absatz 4 des Beschlusses des Präsidiums des Europäischen Parlaments vom 19. Mai und 9. Juli 2008 über die Durchführungsbestimmungen zum Abgeordnetenstatut des Europäischen Parlaments auch die Ausgaben, die unter den vom Präsidium festgelegten Bedingungen im Rahmen von Praktikantenvereinbarungen anfallen, übernommen werden können;
F. in der Erwägung, dass gemäß Artikel 1 Absatz 1 des Beschlusses des Präsidiums des Europäischen Parlaments vom 19. April 2010 über die Regelung betreffend die Praktikanten/Praktikantinnen der Mitglieder die Mitglieder des Europäischen Parlaments während der Plenartagungen in Brüssel und Straßburg oder in dem Mitgliedstaat, in dem das Mitglied gewählt wurde, Praktika anbieten können, um die Kenntnisse über Europa, die berufliche Ausbildung und ein besseres Verständnis der Arbeitsweise des Organs zu fördern;
G. in der Erwägung, dass gemäß Artikel 5 Absatz 1 und 2 der Regelung betreffend die Praktikanten/Praktikantinnen die Einzelheiten des Praktikums Gegenstand einer schriftlichen Praktikumsvereinbarung sind, die vom Mitglied und von dem Praktikanten/der Praktikantin unterzeichnet wird; in der Erwägung, dass die Praktikumsvereinbarung die ausdrückliche Klausel enthält, dass das Europäische Parlament nicht als Partei der Vereinbarung angesehen werden kann; in der Erwägung, dass gemäß Artikel 5 Absatz 4 Ausgaben im Zusammenhang mit den Praktika, einschließlich der Ausgaben für Stipendien und der Kosten des Versicherungsschutzes, falls sie vom Mitglied übernommen werden, bis zu dem in Artikel 33 Absatz 4 der Durchführungsbestimmungen genannten Höchstbetrag aus der Zulage für parlamentarische Assistenz bestritten werden können;
H. in der Erwägung, dass gemäß Artikel 1 Absatz 1 letzter Satz das einer Praktikantin/einem Praktikanten gewährte Stipendium nicht dergestalt sein darf, dass es sich dabei in Wirklichkeit um ein in versteckter Form gezahltes Entgelt handelt; in der Erwägung, dass gemäß Artikel 7 Absatz 1 die Praktikantin/der Praktikant während der gesamten Dauer des Praktikums ausschließlich der Verantwortung des Mitglieds untersteht, bei dem er sein Praktikum absolviert;
I. in der Erwägung, dass in dem vorliegenden Fall das Parlament keine Anzeichen von fumus persecutionis gefunden hat, d. h. einen hinreichend ernsten und genauen Verdacht, dass der Antrag in Zusammenhang mit Vorgängen gestellt wurde, denen die Absicht zugrunde liegt, der politischen Tätigkeit des Mitglieds zu schaden;
J. in der Erwägung, dass der Beschluss des ehemaligen Präsidenten des Parlaments, gegen Béla Kovács aufgrund eines Verstoßes gegen Artikel 1 Buchstabe a des Verhaltenskodex(3) eine Verwarnung auszusprechen, nicht als gleichbedeutend mit einem Urteil betrachtet werden kann, durch das eine res judicata in Bezug auf die Angelegenheiten geschaffen wird, auf die sich das von der Zentralen Ermittelnden Staatsanwaltschaft eingeleitete Strafverfahren bezieht; in der Erwägung, dass demzufolge nicht gegen den Grundsatz ne bis in idem verstoßen wurde; in der Erwägung, dass infolgedessen durch die vom ehemaligen Präsidenten des Parlaments verhängte Strafe die Einleitung bzw. Durchführung eines Strafverfahrens in Ungarn, durch das festgestellt werden soll, ob gegen Béla Kovács Anklage zu erheben ist, nicht verhindert wird;
1. beschließt, die Immunität von Béla Kovács aufzuheben;
2. beauftragt seinen Präsidenten, diesen Beschluss und den Bericht seines zuständigen Ausschusses unverzüglich der zuständigen ungarischen Behörde und Béla Kovács zu übermitteln.
Urteil des Gerichtshofs vom 12 Mai 1964, Wagner/Fohrmann und Krier, 101/63, ECLI:EU:C:1964:28; Urteil des Gerichtshofs vom 10. Juli 1986, Wybot/Faure und andere, 149/85, ECLI:EU:C:1986:310; Urteil des Gerichts vom 15. Oktober 2008, Mote/Parlament, T-345/05, ECLI:EU:T:2008:440; Urteil des Gerichtshofs vom 21. Oktober 2008, Marra/De Gregorio und Clemente, C-200/07 und C-201/07, ECLI:EU:C:2008:579; Urteil des Gerichts vom 19. März 2010, Gollnisch/Parlament, T-42/06, ECLI:EU:T:2010:102; Urteil des Gerichtshofs vom 6. September 2011, Patriciello, C-163/10, ECLI: EU:C:2011:543; Urteil des Gerichts vom 17. Januar 2013, Gollnisch/Parlament, T-346/11 und T-347/11, ECLI:EU:T:2013:23.
Siehe Anlage I der Geschäftsordnung: Verhaltenskodex für die Mitglieder des Europäischen Parlaments im Bereich finanzielle Interessen und Interessenkonflikte.