Entschließung des Europäischen Parlaments vom 19. September 2019 zur Lage in der Türkei und insbesondere zur Absetzung gewählter Bürgermeister (2019/2821(RSP))
Das Europäische Parlament,
– unter Hinweis auf seine vorangegangenen Entschließungen zur Türkei, insbesondere jene vom 24. November 2016 zu den Beziehungen zwischen der EU und der Türkei(1), vom 27. Oktober 2016 zu der Lage der Journalisten in der Türkei(2), vom 8. Februar 2018 zur aktuellen Lage der Menschenrechte in der Türkei(3) und vom 13. März 2019 zu dem Bericht 2018 der Kommission über die Türkei(4),
– unter Hinweis auf die Mitteilung der Kommission vom 29. Mai 2019 an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen über die EU-Erweiterungspolitik (COM(2019)0260) und das Arbeitsdokument ihrer Dienststellen zu dem Bericht 2019 über die Türkei (SWD(2019)0220),
– unter Hinweis auf die Schlussfolgerungen des Rates vom 18. Juni 2018 und auf frühere einschlägige Schlussfolgerungen des Rates und des Europäischen Rates,
– unter Hinweis auf die vorläufigen Schlussfolgerungen der Wahlbeobachtungsmission des Kongresses der Gemeinden und Regionen in Europa,
– unter Hinweis auf die Empfehlungen der Venedig-Kommission und der Verpflichtung der Türkei zur Einhaltung der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung,
– unter Hinweis auf die Entschließung 2260 der Parlamentarischen Versammlung des Europarates vom 24. Januar 2019 mit dem Titel „Verschlechterung der Lage von Oppositionspolitikerinnen und Oppositionspolitikern in der Türkei: Wie können ihre Grundrechte in einem Mitgliedstaat des Europarates geschützt werden?“,
– unter Hinweis auf die Erklärungen des Sprechers des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD) vom 19. August 2019 zu der Absetzung gewählter Bürgermeister und zu der Inhaftierung hunderter Personen im Südosten der Türkei,
– unter Hinweis auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Fall Selahattin Demirtaş gegen die Türkei,
– unter Hinweis auf die Entschließung 2156 (2017) der Parlamentarischen Versammlung des Europarates zur Funktionsweise der demokratischen Institutionen in der Türkei,
– unter Hinweis darauf, dass zu den Werten, auf denen die Europäische Union gründet, die Rechtsstaatlichkeit und die Achtung der Menschenrechte zählen und dass diese Werte auch für alle EU-Bewerberländer gelten,
– unter Hinweis auf die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR), deren Vertragspartei die Türkei ist,
– unter Hinweis auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte,
– gestützt auf Artikel 144 Absatz 5 und Artikel 132 Absatz 4 seiner Geschäftsordnung,
A. in der Erwägung, dass die Türkei für die EU ein wichtiger Partner ist, von dem als Bewerberland erwartet wird, dass dort strengste demokratische Normen eingehalten werden, auch in Bezug auf die Achtung der Menschenrechte, die Rechtsstaatlichkeit, glaubwürdige Wahlen, die Grundfreiheiten und das universelle Recht auf ein faires Verfahren;
B. in der Erwägung, dass am 31. März 2019 in der Türkei nach den vorläufigen Schlussfolgerungen der Wahlbeobachtungsdelegation des Kongresses der Gemeinden und Regionen in Europa eine Kommunalwahl abgehalten und „ordnungsgemäß durchgeführt wurde“; in der Erwägung, dass bei der Kommunalwahl eine beeindruckend hohe Wahlbeteiligung zu verzeichnen war; in der Erwägung, dass die Wahl von Beobachtern wegen übermäßiger Voreingenommenheit der Medien zugunsten der regierenden Volksallianz weithin kritisiert wurde;
C. in der Erwägung, dass bei der Kommunalwahl vom 31. März 2019 in Diyarbakır Bürgermeister Adnan Selçuk Mızraklı eine Mehrheit von 63 %, in Mardin Bürgermeister Ahmet Türk eine Mehrheit von 56 % und in Van Bürgermeisterin Bedia Özgökçe eine Mehrheit von 54 % der Stimmen erhielt, was bedeutet, dass die Bevölkerung allen dreien den eindeutigen Auftrag erteilte, die mit dem Amt des Bürgermeisters verbundenen Aufgaben zu erfüllen;
D. in der Erwägung, dass Hohe Wahlausschuss der Republik Türkei (YSK) allen drei Bürgermeistern die Kandidatur gestattet hatte;
E. in der Erwägung, dass die demokratisch gewählten Bürgermeister von Diyarbakır, Van und Mardin im Südosten der Türkei infolge laufender strafrechtlicher Ermittlungen wegen mutmaßlicher Verbindungen zu Terrororganisationen durch von der Regierung ernannte Provinzgouverneure bzw. der Regierung treu ergebene Personen ersetzt wurden;
F. in der Erwägung, dass die Ersetzung von Adnan Selçuk Mızraklı, Ahmet Türk und Bedia Özgökçe Ertan durch von der Staatsmacht ernannte Gouverneure Anlass zu erheblicher Besorgnis bietet, da hierdurch die Achtung der demokratischen Ergebnisse der Wahl vom 31. März 2019 infrage gestellt wird; in der Erwägung, dass weitere 418 Zivilisten, vor allem Gemeinderatsmitglieder und Angestellte aus 29 Provinzen in der gesamten Türkei am 18. August 2019 infolge ähnlicher und unbegründeter Vorwürfe festgenommen wurden;
G. in der Erwägung, dass im September 2016 das türkische Gesetz über die Gemeinden per Notstandsdekret geändert wurde, damit Bürgermeister, denen Verbindungen zu Terrororganisationen vorgeworfen werden, leichter abgesetzt und durch Provinzgouverneure ersetzt werden können; in der Erwägung, dass die Venedig-Kommission die Staatsorgane der Türkei aufgefordert hat, die per Gesetzesdekret Nr. 674 vom 1. September 2016 eingeführten Bestimmungen, die aufgrund des Ausnahmezustands nicht unbedingt erforderlich sind, aufzuheben, insbesondere die Vorschriften über die Besetzung freier Stellen für die Ämter des Bürgermeisters, des stellvertretenden Bürgermeisters oder eines Gemeinderatsmitglieds im Wege von Ernennungen;
H. in der Erwägung, dass der YSK am 9. April 2019 vier weitere gewählte Bürgermeister und Gemeinderatsmitglieder im Südosten der Türkei nachträglich für unwählbar erklärte, obwohl er ihre jeweilige Kandidatur vor der Wahl vom 31. März 2019 gebilligt hatte, und dabei geltend machte, diese Kandidaten seien zuvor Beamte gewesen und durch Regierungserlass entlassen worden; in der Erwägung, dass der YSK im Anschluss an diese Entscheidung den Kandidaten der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) diese Ämter übertrug; in der Erwägung, dass das scharfe Vorgehen gegen die Opposition in der Türkei in einem Umfeld stattfindet, in dem der Raum für demokratische Stimmen immer kleiner wird und die Staatsorgane der Türkei ihre Maßnahmen fortsetzen, mit denen sie Andersdenkende – darunter Journalisten, Menschenrechtsverfechter, Akademiker, Richter und Anwälte –, zum Schweigen bringen wollen;
I. in der Erwägung, dass viele dieser Maßnahmen unverhältnismäßig sind und die Türkei mit ihnen gegen ihre innerstaatlichen Rechtsvorschriften verstößt und ihre Pflichten als Mitglied des Europarates und des IPPBR verletzt; in der Erwägung, dass im Rahmen von Razzien nach dem Putschversuch mehr als 150 000 Personen in Gewahrsam genommen und 78 000 Personen unter dem Vorwurf des Terrorismus inhaftiert wurden und dass sich nach wie vor über 50 000 Personen in Haft befinden, für deren Schuld zumeist keine schlüssigen Beweise vorliegen; in der Erwägung, dass im Dezember 2018 etwa 57 000 Personen ohne Anklage oder Gerichtsverfahren inhaftiert waren; in der Erwägung, dass mehr als 20 % der Inhaftierten infolge von Vorwürfen im Zusammenhang mit Terrorismus im Gefängnis sitzen, darunter Journalisten, politische Aktivisten, Anwälte und Menschenrechtsverfechter, weshalb immer stärkere Bedenken hinsichtlich der Unabhängigkeit der Justiz laut werden;
J. in der Erwägung, dass die Entscheidungen des YSK, die Oberbürgermeisterwahl in Istanbul wiederholen zu lassen und das Bürgermeisteramt in bestimmten Gemeinden im Südosten des Landes den Zweitplatzierten zu übertragen, Anlass zu erheblicher Besorgnis geben, insbesondere im Hinblick auf die Achtung der Rechtmäßigkeit und Integrität des Wahlverfahrens und die Unabhängigkeit von politischer Einflussnahme bei der Besetzung von Ämtern;
K. in der Erwägung, dass der Innenminister der Türkei am 3. September 2019 weitere Anordnungen zur Absetzung gewählter Amtsträger ankündigte und dabei insbesondere damit drohte, den Oberbürgermeister von Istanbul, Ekrem İmamoğlu, abzusetzen;
L. in der Erwägung, dass die Provinzparteivorsitzende der Republikanischen Volkspartei (CHP), Canan Kaftancıoğlu, am 6. September 2019 zu neun Jahren und acht Monaten Haft verurteilt wurde, weil sie den Präsidenten beleidigt, öffentliche Bedienstete beleidigt, den Staat verunglimpft, Volksverhetzung betrieben und über ihre Kanäle in den sozialen Medien zwischen 2012 und 2017 Propaganda für eine terroristische Organisation verbreitet haben soll;
M. in der Erwägung, dass mehrere Demonstrationen gegen die Absetzung von Bürgermeistern aus Gründen der Sicherheit verboten wurden und dass die Demonstrationen, die stattfinden konnten, von der Polizei gewaltsam aufgelöst wurden, wobei es in vielen Fällen zu Massenverhaftungen kam und die Teilnehmer gerichtlich belangt wurden; in der Erwägung, dass diese Handlungen auf Rechtsvorschriften zurückgehen, die unmittelbar nach der Aufhebung des Ausnahmezustands erlassen wurden;
N. in der Erwägung, dass in der Türkei mehrere Anschläge verübt wurden und 2016 ein Putschversuch unternommen wurde, bei dem 248 Menschen zu Tode kamen;
1. verurteilt die Entscheidung der Staatsorgane der Türkei, auf der Grundlage fragwürdiger Beweise demokratisch gewählte Bürgermeister ihres Amtes zu entheben; betont, dass durch diese Maßnahmen die Möglichkeiten der Opposition, ihre Rechte wahrzunehmen und ihren Aufgaben in der Demokratie nachzugehen, weiter ausgehöhlt werden; fordert die Staatsorgane der Türkei auf, die Mitglieder der Opposition, die im Rahmen des scharfen Vorgehens gegen alle Andersdenkenden festgenommen wurden, umgehend und bedingungslos freizulassen und alle Anklagepunkte gegen sie fallenzulassen;
2. kritisiert auf das Schärfste, dass gewählte kommunale Amtsträger durch nicht gewählte und der Regierung treu ergebene Personen ersetzt wurden, wodurch die demokratische Struktur der Türkei weiter ausgehöhlt wird; fordert die Staatsorgane der Türkei auf, sämtliche Bürgermeister und alle anderen gewählten Mandatsträger, die aus der Kommunalwahl vom 31. März 2019 siegreich hervorgingen und daran gehindert wurden, ihr Amt anzutreten oder mittels unbegründeter Vorwürfe abgesetzt und durch nicht gewählte und der Regierung treu ergebene Personen ersetzt wurden, wiedereinzusetzen;
3. missbilligt mit aller Entschiedenheit das politisch motivierte Urteil gegen Canan Kaftancıoğlu, die damit eindeutig dafür gemaßregelt wird, dass sie im erfolgreichen Wahlkampf des Bürgermeisters von Istanbul eine Schlüsselrolle spielte, und fordert die sofortige Aufhebung dieses Urteils;
4. verurteilt die Drohungen der Staatsorgane der Türkei, weitere gewählte Amtsträger abzusetzen, und fordert die Türkei auf, von weiteren Einschüchterungsmaßnahmen abzusehen;
5. erachtet es unverändert als wichtig, gute Beziehungen zur Türkei zu unterhalten, und zwar auf der Grundlage gemeinsamer Werte, der Achtung der Menschenrechte, der Rechtsstaatlichkeit, freier und demokratischer Wahlen (und damit auch der Respektierung von Wahlergebnissen), der Grundfreiheiten und des universellen Rechts auf ein faires Verfahren; fordert die Regierung der Türkei auf, die Achtung der Menschenrechte all jener zu gewährleisten, die in der Türkei leben und arbeiten, was auch für jene gilt, die internationalen Schutz benötigen;
6. ist nach wie vor zutiefst besorgt darüber, dass sich die Lage der Grundfreiheiten und der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei weiter verschlechtert, und verurteilt den Rückgriff auf willkürliche Verhaftungen, Einschüchterungen durch den Justiz- und Verwaltungsapparat, Ausreiseverbote und weitere Maßnahmen zur Verfolgung tausender Staatsbürger der Türkei, zum Beispiel von Politikern und gewählten Amtsträgern, Menschenrechtsverfechtern, Mitgliedern unabhängiger Organisationen der Zivilgesellschaft, Akademikern und zahllosen einfachen Bürgerinnen und Bürgern; ist besorgt angesichts von Berichten darüber, dass nach wie vor Strafverfolgungsmaßnahmen und Ermittlungen wegen zu weit gefasster und zu vage definierter Straftatbestände im Zusammenhang mit dem Terrorismus durchgeführt werden;
7. fordert die Türkei nachdrücklich auf, ihre Rechtsvorschriften zur Terrorismusbekämpfung mit den internationalen Menschenrechtsnormen in Einklang zu bringen; bekräftigt, dass die weit gefassten türkischen Rechtsvorschriften zur Terrorismusbekämpfung nicht dazu herhalten sollten, Bürger und Medien für die Ausübung ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung zu bestrafen oder gewählte Mandatsträger willkürlich zu entfernen und sie durch der Regierung treu ergebene Personen zu ersetzen;
8. fordert die Staatsorgane der Türkei auf, die internationalen Grundsätze zu wahren, Pluralismus und Vereinigungs- und Meinungsfreiheit zu gewährleisten, sich nach bewährten Verfahren zu richten und denjenigen, durch deren Wahl der Wille der Bevölkerung der Türkei frei und fair zum Ausdruck gebracht wird, ein für die Ausübung ihres Amtes förderliches Umfeld zu garantieren; betont, dass mit den genannten Entscheidungen gegen das Recht auf freie Wahlen, das Recht auf politische Teilhabe und das Recht auf freie Meinungsäußerung im Rahmen der EMRK verstoßen wird;
9. bekräftigt seine Besorgnis über den übermäßigen Rückgriff auf Gerichtsverfahren gegen auf kommunaler Ebene in der Türkei gewählte Mandatsträger und ihre Ersetzung durch ernannte Beamte – eine Praxis, die das ordnungsgemäße Funktionieren der Demokratie vor Ort schwerwiegend beeinträchtigt;
10. fordert die Regierung der Türkei auf, dafür zu sorgen, dass alle Bürger Anspruch auf rechtliches Gehör und darauf haben, ihren Fall im Einklang mit den internationalen Normen von einem unabhängigen Gericht, das Wiedergutmachung – etwa für Entschädigungen für die verursachten materiellen und immateriellen Schäden – anordnen kann, überprüfen zu lassen; fordert die Türkei auf, die operative, strukturelle und finanzielle Unabhängigkeit der türkischen Institution für Menschenrechte und Gleichstellung und des türkischen Bürgerbeauftragten sicherzustellen, damit diese beiden Einrichtungen wirksame Überprüfungs- und Rechtsbehelfsmöglichkeiten bieten, und fordert die Türkei auf, die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu befolgen;
11. verurteilt, dass der Oppositionsführer und Präsidentschaftskandidat Selahattin Demirtaş nach wie vor in Haft ist, und fordert seine sofortige und bedingungslose Freilassung; weist auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in seiner Rechtssache hin, in dem die Staatsorgane der Türkei aufgefordert werden, ihn umgehend freizulassen;
12. ist zutiefst besorgt darüber, dass die Staatsorgane der Türkei Plattformen der sozialen Medien überwachen und Konten in den sozialen Medien schließen;
13. fordert den EAD und die Kommission auf, dem Parlament einen umfassenden Bericht über die Themen vorzulegen, die am 13. September 2019 im Rahmen des politischen Dialogs EU–Türkei erörtert wurden;
14. fordert die Vizepräsidentin der Kommission und Hohe Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, die Kommission und die Mitgliedstaaten nachdrücklich auf, ihre türkischen Gesprächspartner auf die Lage von verhafteten Mitgliedern der Opposition, Menschenrechtsverfechtern, politischen Aktivisten, Rechtsanwälten, Journalisten und Akademikern anzusprechen und ihnen diplomatische und politische Unterstützung zu leisten, was die Beobachtung und Überwachung von Gerichtsverfahren umfasst; fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, stärker von Soforthilfen für Menschenrechtsverfechter Gebrauch zu machen und dafür zu sorgen, dass die Leitlinien der EU zum Schutz von Menschenrechtsverteidigern uneingeschränkt umgesetzt werden;
15. beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung dem Rat, der Kommission, der Vizepräsidentin der Kommission und Hohen Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik sowie dem Staatspräsidenten, der Regierung und dem Parlament der Türkei zu übermitteln, und ersucht darum, dass diese Entschließung ins Türkische übersetzt wird.