Entschließung des Europäischen Parlaments vom 8. Oktober 2020 zu dem Entwurf einer Verordnung der Kommission zur Änderung des Anhangs der Verordnung (EU) Nr. 231/2012 mit Spezifikationen für die in den Anhängen II und III der Verordnung (EG) Nr. 1333/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates aufgeführten Lebensmittelzusatzstoffe in Bezug auf die Spezifikationen für Titandioxid (E 171) (D066794/04 – 2020/2795(RPS))
Das Europäische Parlament,
– unter Hinweis auf den Entwurf einer Verordnung der Kommission zur Änderung des Anhangs der Verordnung (EU) Nr. 231/2012 mit Spezifikationen für die in den Anhängen II und III der Verordnung (EG) Nr. 1333/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates aufgeführten Lebensmittelzusatzstoffe in Bezug auf die Spezifikationen für Titandioxid (E 171) (D066794/04),
– gestützt auf die Verordnung (EG) Nr. 1333/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über Lebensmittelzusatzstoffe(1), insbesondere auf Artikel 14,
– gestützt auf die Verordnung (EG) Nr. 1331/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über ein einheitliches Zulassungsverfahren für Lebensmittelzusatzstoffe, ‑enzyme und ‑aromen(2), insbesondere auf Artikel 7 Absatz 5,
– unter Hinweis auf die Stellungnahme des Ständigen Ausschusses für Pflanzen, Tiere, Lebensmittel und Futtermittel vom 13. Mai 2019(3),
– unter Hinweis auf die Stellungnahme der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA), die am 10. Mai 2019 angenommen und am 12. Juni 2019 veröffentlicht wurde(4),
– gestützt auf Artikel 5a Absatz 3 Buchstabe b und Absatz 5 des Beschlusses 1999/468/EG des Rates vom 28. Juni 1999 zur Festlegung der Modalitäten für die Ausübung der der Kommission übertragenen Durchführungsbefugnisse(5),
– gestützt auf Artikel 112 Absätze 2 und 3 und Absatz 4 Buchstabe c seiner Geschäftsordnung,
– unter Hinweis auf den Entschließungsantrag des Ausschusses für Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit,
A. in der Erwägung, dass die Verordnung (EG) Nr. 1333/2008 Bestimmungen über die in Lebensmitteln verwendeten Zusatzstoffe mit Blick auf die Gewährleistung des reibungslosen Funktionierens des Binnenmarkts bei gleichzeitiger Gewährleistung eines hohen Schutzniveaus für die Gesundheit der Menschen und eines hohen Niveaus des Schutzes der Verbraucher einschließlich des Schutzes der Verbraucherinteressen und der lauteren Gepflogenheiten im Lebensmittelhandel unter angemessener Berücksichtigung des Umweltschutzes enthält;
B. in der Erwägung, dass in der Verordnung (EG) Nr. 1331/2008 ein gemeinsames Verfahren für die Bewertung und Zulassung von Lebensmittelzusatzstoffen festgelegt ist, das unter anderem zum freien Verkehr von Lebensmitteln innerhalb der Union und zu einem hohen Schutzniveau für die Gesundheit der Menschen und zu einem hohen Niveau des Schutzes der Verbraucher einschließlich des Schutzes der Verbraucherinteressen beiträgt;
Verwendung von Titandioxid (E 171) in Lebensmitteln
C. in der Erwägung, dass Titandioxid (E 171) ein Lebensmittelzusatzstoff ist, der teilweise aus Nanopartikeln besteht und hauptsächlich in Lebensmitteln wie Süßwaren, Gebäck, Desserts, Speiseeis, Keksen, Schokoladetafeln, Backwaren und Feinbackwaren vorkommt; in der Erwägung, dass seine Hauptfunktion darin besteht, Erzeugnissen einen hohen Weißgrad oder eine hohe Opazität zu verleihen;
D. in der Erwägung, dass Titandioxid (E 171) hauptsächlich in Lebensmitteln verwendet wird, die bei Kindern besonders beliebt sind, etwa Kaugummi, Bonbons, Schokolade und Speiseeis, was Bedenken hinsichtlich der potenziell hohen Exposition dieses gefährdeten Teils der Bevölkerung aufwirft;
Bewertung des Sicherheitsrisikos
E. in der Erwägung, dass in dem wissenschaftlichen Gutachten der EFSA vom 28. Juni 2016 zu Titandioxid (E 171)(6) bereits darauf hingewiesen wurde, dass Daten fehlen, wodurch die vollständige Risikobewertung des Zusatzstoffs behindert wird; in der Erwägung, dass die Unsicherheiten in Bezug auf die Unbedenklichkeit von Titandioxid (E 171) teilweise darauf zurückzuführen sind, dass die Hersteller die für die Risikobewertung erforderlichen Daten nicht vorgelegt haben;
F. in der Erwägung, dass in zahlreichen aktuellen wissenschaftlichen Veröffentlichungen(7) die Unbedenklichkeit von Titandioxid (E 171) infrage gestellt und auf potenzielle Risiken im Zusammenhang mit seinem Verzehr hingewiesen wurde;
G. in der Erwägung, dass in der Stellungnahme der französischen Agentur für Lebensmittelsicherheit, Umwelt- und Arbeitsschutz (Anses) vom 12. April 2019(8) neben anderen schädlichen Auswirkungen auch mögliche krebserregende Auswirkungen von Titandioxid (E 171) festgestellt wurden und der Schluss gezogen wurde, dass wissenschaftliche Unsicherheiten in Bezug auf die Unbedenklichkeit von Titandioxid (E 171) und Datenlücken fortbestehen, was bedeutet, dass Bedenken hinsichtlich der potenziellen Toxizität von Titandioxid (E 171) für die Verbraucher nicht ausgeräumt werden können; in der Erwägung, dass auch das niederländische Amt für Risikobewertung und -forschung (Bureau Risicobeoordeling en Onderzoek, BuRO)(9) auf Datenlücken und Unsicherheiten hingewiesen hat;
H. in der Erwägung, dass sich die jüngste Stellungnahme der EFSA zu Titandioxid (E 171) in Lebensmitteln(10) auf das Gutachten der Anses bezieht und darin auch mehrere Unsicherheiten in Bezug auf seine unbedenkliche Verwendung festgestellt werden;
I. in der Erwägung, dass im Februar 2016 im Internationalen Krebsforschungszentrum (CIRC) in Lyon (Frankreich) 19 Wissenschaftler aus acht Ländern zusammenkamen, um die Karzinogenität von Titandioxid (E 171) neu zu bewerten, und zu dem Schluss kamen, dass es als möglicherweise krebserregend für den Menschen (d. h. Gruppe 2B) eingestuft werden sollte(11);
J. in der Erwägung, dass das National Institute for Occupational Safety and Health (NIOSH) der USA festgestellt hat, dass die Exposition gegenüber ultrafeinem Titandioxid (E 171) als potenzielles Karzinogen am Arbeitsplatz betrachtet werden sollte(12);
Entscheidungen zum Risikomanagement
K. in der Erwägung, dass die französische Regierung infolge des Gutachtens der Anses und der anschließenden Stellungnahme der EFSA, in der die Bedenken nicht ausgeräumt werden konnten, als Vorsichtsmaßnahme zum Schutz der Gesundheit der Verbraucher ein Dekret erlassen hat, wonach der Verkauf von Lebensmitteln, die Titandioxid (E 171) enthalten, ab dem 1. Januar 2020 untersagt ist;
L. in der Erwägung, dass die Kommission ungeachtet dessen nicht etwa vorschlägt, die Verwendung von Titandioxid (E 171) in Lebensmittelerzeugnissen schrittweise einzustellen, sondern einen Entwurf einer Verordnung zur Änderung der Begriffsbestimmung und der Spezifikationen dieses Lebensmittelzusatzstoffs vorgelegt hat, der vorsieht, dass Titandioxid (E 171) weiterhin in Verkehr gebracht werden darf und Lebensmittel, die es enthalten, in Verkehr bleiben dürfen;
M. in der Erwägung, dass durch Entscheidungen, auf dem Markt befindliches Titandioxid (E 171) nicht zu verbieten, Unternehmen benachteiligt werden, die beschlossen haben, das Vorsorgeprinzip anzuwenden und Titandioxid (E 171) in ihren Erzeugnissen ersetzt oder aus ihren Erzeugnissen entfernt haben;
Vorsorgeprinzip und „sonstige Faktoren“
N. in der Erwägung, dass in Artikel 191 Absatz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) der Grundsatz der Vorsorge als eines der Grundprinzipien der Union vorgesehen ist;
O. in der Erwägung, dass nach Artikel 168 Absatz 1 AEUV bei der Festlegung und Durchführung aller Unionspolitiken und ‑maßnahmen ein hohes Gesundheitsschutzniveau sichergestellt werden muss;
P. in der Erwägung, dass bereits über 85 000 Bürgerinnen und Bürger in der gesamten Europäischen Union eine Petition(13) zur Unterstützung des Verbots von Titandioxid (E 171) in Frankreich unterzeichnet und angesichts der Unsicherheiten in Bezug auf Lebensmittelzusatzstoffe, die keinen Ernährungszweck haben und ein Risiko für die Verbraucher darstellen können, die Anwendung des Vorsorgeprinzips gefordert haben;
Q. in der Erwägung, dass gemäß der Verordnung (EG) Nr. 1331/2008 bei der Zulassung von Lebensmittelzusatzstoffen auch andere relevante Faktoren wie beispielsweise gesellschaftliche, wirtschaftliche und ethische Gesichtspunkte, Traditionen und Umwelterwägungen wie auch die Frage der Kontrollierbarkeit berücksichtigt werden können;
Zulassungsbedingungen und Alternativen
R. in der Erwägung, dass gemäß Artikel 6 der Verordnung (EG) Nr. 1333/2008 ein Lebensmittelzusatzstoff nur zugelassen werden darf, wenn er gesundheitlich unbedenklich ist, eine hinreichende technische Notwendigkeit besteht und durch seine Verwendung die Verbraucher nicht irregeführt werden, sondern dies vielmehr Vorteile für die Verbraucher mit sich bringt;
S. in der Erwägung, dass Titandioxid (E 171) nur zu ästhetischen Zwecken verwendet wird und weder einen Nährwert hat noch eine nützliche technische Funktion in Lebensmitteln erfüllt;
T. in der Erwägung, dass es keine überzeugende technische Notwendigkeit für die Verwendung von Titandioxid (E 171) gibt und es vielen Lebensmittelherstellern und Einzelhandelsunternehmen, die auf dem französischen Markt tätig sind, bereits gelungen ist, in ihren Erzeugnissen kein Titandioxid (E 171) mehr zu verwenden, um dem französischen Dekret zur Aussetzung des Inverkehrbringens von Lebensmitteln, die diesen Zusatzstoff enthalten, nachzukommen(14); in der Erwägung, dass einige multinationale Unternehmen zugesagt haben, in den von ihnen hergestellten Lebensmitteln kein Titandioxid (E 171) mehr zu verwenden(15);
U. in der Erwägung, dass die meisten Mitgliedstaaten bislang Mühe damit haben, die Pflicht zur Kennzeichnung von Nanopartikeln in Lebensmitteln durchzusetzen; in der Erwägung, dass bei Untersuchungen von Verbraucherschutzverbänden, die in Spanien, Belgien, Italien und Deutschland durchgeführt wurden, Nanopartikel von Titandioxid (E 171) in Anteilen von mehr als 50 % festgestellt, ohne dass der Zusatzstoff als „Nano“ gekennzeichnet worden wäre(16), auch in Lebensmitteln wie Süßigkeiten, Kaugummi und Gebäck, die häufig von Kindern und anderen gefährdeten Bevölkerungsgruppen verzehrt werden;
1. erhebt Einwände gegen die Annahme des Entwurfs einer Verordnung der Kommission;
2. vertritt die Auffassung, dass der Entwurf einer Verordnung der Kommission nicht mit der Zielsetzung und dem Inhalt der Verordnungen (EG) Nr. 1333/2008 und (EG) Nr. 1331/2008 vereinbar ist;
3. ist der Ansicht, dass die weitere Zulassung des Inverkehrbringens und des Verkaufs von Titandioxid (E 171) als Lebensmittelzusatzstoff im Widerspruch zu Artikel 6 der Verordnung (EG) Nr. 1333/2008 steht und schädliche Auswirkungen auf die Gesundheit der Verbraucherinnen und Verbraucher in der Union haben kann;
4. fordert die Kommission auf, ihren Entwurf einer Verordnung zurückzuziehen;
5. fordert die Kommission auf, das Vorsorgeprinzip anzuwenden und Titandioxid (E 171) aus der Unionsliste der zugelassenen Lebensmittelzusatzstoffe zu streichen;
6. beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung dem Rat und der Kommission sowie den Regierungen und Parlamenten der Mitgliedstaaten zu übermitteln.
EFSA statement on the review of the risks related to the exposure to the food additive titanium dioxide (E 171) performed by the French Agency for Food, Environmental and Occupational Health and Safety (ANSES) [Stellungnahme der EFSA zur Überprüfung der Risiken im Zusammenhang mit der Exposition gegenüber dem Lebensmittelzusatzstoff Titandioxid (E 171) durch die französische Agentur für Lebensmittelsicherheit, Umwelt- und Arbeitsschutz (Agence nationale de sécurité sanitaire de l'alimentation, de l'environnement et du travail, Anses)], EFSA Journal 2019; 17(6):5714, https://www.efsa.europa.eu/en/efsajournal/pub/5714.
Re-evaluation of titanium dioxide (E 171) as a food additive (Neubewertung von Titandioxid (E 171) als Lebensmittelzusatzstoff), EFSA Journal 2016; 14(9):4545, https://www.efsa.europa.eu/en/efsajournal/pub/4545
Siehe die Avicenn-Liste „Recent academic publications on adverse effects of E171 and/or TiO2 nanoparticles via oral exposure“ (Aktuelle wissenschaftliche Veröffentlichungen zu schädlichen Auswirkungen von E 171 und/oder TiO2-Nanopartikeln durch orale Exposition) unter http://veillenanos.fr/wakka.php?wiki=RisQIngestionNpTiO2/download&file=20190911AvicennE171recentpublications.pdf; Skocaj, M., Filipic, M., Petkovic, J., and Novak, S., „Titanium dioxide in our everyday life; is it safe?“ (Titandioxid in unserem Alltag – unbedenklich?), Radiology and Oncology, Dezember 2011; 45(4): 227–247, https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3423755/; und Pinget, G., et al, „Impact of the Food Additive Titanium Dioxide (E171) on Gut Microbiota-Host Interaction“ (Auswirkungen des Lebensmittelzusatzstoffs Titandioxid (E 171) auf die Wechselwirkung zwischen Darm-Mikrobiota und dem Wirtsorganismus). Frontiers in Nutrition, 14. Mai 2019, https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fnut.2019.00057/full
Gutachten der französischen Agentur für Lebensmittelsicherheit, Umwelt- und Arbeitsschutz (Anses) zu den Risiken im Zusammenhang mit der Aufnahme des Lebensmittelzusatzstoffes E 171, abrufbar unter https://www.anses.fr/en/system/files/ERCA2019SA0036EN.pdf.
EFSA statement on the review of the risks related to the exposure to the food additive titanium dioxide (E 171) performed by the French Agency for Food, Environmental and Occupational Health and Safety (Anses) [Stellungnahme der EFSA zur Überprüfung der Risiken im Zusammenhang mit der Exposition gegenüber dem Lebensmittelzusatzstoff Titandioxid (E 171) durch die französische Agentur für Lebensmittelsicherheit, Umwelt- und Arbeitsschutz (Agence nationale de sécurité sanitaire de l'alimentation, de l'environnement et du travail, Anses)], EFSA Journal 2019; 17(6):5714, https://efsa.onlinelibrary.wiley.com/doi/10.2903/j.efsa.2019.5714.
„Carbon Black, Titanium Dioxide and Talc“ (Pflanzenkohle, Titandioxid und Talkum), „IARC Monographs on the Evaluation of Carcinogenic risks to Humans“ (Monografien des CIRC zur Bewertung karzinogener Risiken beim Menschen, Band 93, https://publications.iarc.fr/Book-And-Report-Series/Iarc-Monographs-On-The-Identification-Of-Carcinogenic-Hazards-To-Humans/Carbon-Black-Titanium-Dioxide-And-Talc-2010
„Occupational Exposure to Titanium Dioxide“ (Exposition gegenüber Titandioxid am Arbeitsplatz), Current Intelligence Bulletin 63, https://www.cdc.gov/niosh/docs/2011-160/pdfs/2011-160.pdf
Gemäß dem (nicht vollständigen) Online-Verzeichnis von „Agir pour l’Environnement“ („Handeln für die Umwelt“, https://infonano.agirpourlenvironnement.org/liste-verte/) wurde die Formulierung von mindestens 340 Lebensmitteln, in denen Titandioxid (E 171) enthalten war, binnen sehr kurzer Zeit in „frei von E 171“ geändert. Kleineren Herstellern, die unter Umständen größere technische Hürden als größere Betreiber überwinden müssen, wurde laut einer Pressemitteilung des französischen Ministeriums für Wirtschaft und Finanzen aus dem Jahr 2018 (https://www.economie.gouv.fr/files/files/directions_services/dgccrf/presse/communique/2018/CP_Nanoparticules201804.pdf) von ihren Berufsverbänden Unterstützung dabei angeboten, in ihren Erzeugnissen kein Titandioxid (E 171) mehr zu verwenden.