Entschließung des Europäischen Parlaments vom 11. Februar 2021 zur Sicherheit des Kernkraftwerks in Astrawez (Belarus) (2021/2511(RSP))
Das Europäische Parlament,
– unter Hinweis auf die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 10./11. Dezember 2020,
– unter Hinweis auf die Anfrage an die Kommission zur Sicherheit des Kernkraftwerks in Astrawez (Belarus) (O‑000004/2021 – B9‑0003/2021),
– gestützt auf Artikel 136 Absatz 5 und Artikel 132 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung,
– unter Hinweis auf den Entschließungsantrag des Ausschusses für Industrie, Forschung und Energie,
A. in der Erwägung, dass die nukleare Sicherheit für die Europäische Union sowohl in der Union selbst als auch jenseits ihrer Grenzen eine zentrale Priorität ist;
B. in der Erwägung, dass in der Gruppe der europäischen Aufsichtsbehörden für nukleare Sicherheit (ENSREG) das umfangreiche Fachwissen zusammenkommt, das im Zuge der Peer-Review von in der EU und in Drittstaaten gelegenen Kernkraftwerken erworben wurde;
C. in der Erwägung, dass ein Peer-Review-Team der ENSREG im März 2018 in Belarus und im Kernkraftwerk Astrawez zugegen war, nachdem es die erforderlichen Vorbereitungstätigkeiten abgeschlossen hatte, wozu auch die Entgegennahme der Antworten auf seine schriftlichen Fragen zählte, und im Juli 2018 seinen Peer-Review-Abschlussbericht veröffentlichte;
D. in der Erwägung, dass die ENSREG die belarussischen Behörden aufforderte, einen nationalen Aktionsplan auszuarbeiten, damit alle in dem Peer-Review-Bericht genannten Empfehlungen zur Verbesserung der Sicherheit rasch umgesetzt werden – vorbehaltlich einer künftigen unabhängigen Begutachtung, die in allen EU-Mitgliedstaaten und Drittstaaten durchgeführt wird, die an dem Verfahren der kerntechnischen Risiko- und Sicherheitsbewertung teilnehmen;
E. in der Erwägung, dass Belarus seinen nationalen Aktionsplan im August 2019 veröffentlichte, aber erst im Juni 2020 einer weiteren Peer-Review der ENSREG zustimmte, nachdem es seitens der EU mehrmals dazu aufgefordert und erheblicher Druck auf hoher Ebene ausgeübt worden war;
F. in der Erwägung, dass dieses weitere Peer-Review-Verfahren im Gange ist und die ENSREG ihre Erkenntnisse in den kommenden Monaten vervollständigt und veröffentlicht, wobei angestrebt wird, dass das Plenum der ENSREG einen vorläufigen Bericht veröffentlicht und ihn Belarus vor der kommerziellen Inbetriebnahme des Kernkraftwerks übermittelt, die von den belarussischen Behörden für März 2021 vorgesehen ist;
G. in der Erwägung, dass die Stromerzeugung in dem Kernkraftwerk am 3. November 2020 aufgenommen wurde, obwohl noch zahlreiche Sicherheitsbedenken bestehen und keine Belege dafür vorliegen, inwieweit die Empfehlungen umgesetzt wurden, die die EU im Rahmen der Peer-Review von 2018 und die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO) ausgesprochen haben;
H. in der Erwägung, dass die physikalische Inbetriebnahme des Kernkraftwerks ohne Betriebsgenehmigung erfolgte, da das Genehmigungsverfahren im Juli 2020 geändert wurde;
I. in der Erwägung, dass die baltischen Staaten im August 2020 gemeinsam beschlossen hatten, den kommerziellen Stromhandel mit Belarus einzustellen, sobald die Stromerzeugung im Kernkraftwerk Astrawez aufgenommen wird, und gemäß diesem Beschluss der Stromhandel zwischen Belarus und der EU am 3. November 2020 – als das Kernkraftwerk Astrawez an das Stromnetz angeschlossen wurde – eingestellt wurde;
1. ist besorgt darüber, dass sich das Kernkraftwerk Astrawez nur 50 km von Vilnius (Litauen) entfernt und in unmittelbarer Nähe zu anderen EU-Mitgliedstaaten wie Polen, Lettland und Estland befindet;
2. bedauert, dass das Projekt trotz der Proteste belarussischer Bürgerinnen und Bürger umgesetzt wird und dass Mitglieder belarussischer nichtstaatlicher Organisationen, die den Bau des Kernkraftwerks in Astrawez bekannter machen wollen, strafrechtlich verfolgt und unrechtmäßig festgenommen werden;
3. stellt mit Besorgnis fest, dass Belarus und Russland mit dem Kernkraftwerk ein geopolitisches Projekt umsetzen und dass der Bau und der künftige Betrieb des Kernkraftwerks eine mögliche Bedrohung für die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten im Hinblick auf Sicherheit, Gesundheit und Umweltschutz darstellen;
4. ist nach wie vor besorgt über die übereilte Inbetriebnahme eines Kernkraftwerks, das nicht den höchsten internationalen Normen in den Bereichen Umweltschutz und nukleare Sicherheit und auch nicht den IAEO-Empfehlungen entspricht;
5. bedauert den anhaltenden Mangel an Transparenz und offiziellen Informationen über immer wieder vorgenommene Notabschaltungen des Reaktors und den Ausfall von Anlagen während der Inbetriebnahme des Kernkraftwerks im Jahr 2020, etwa den Ausfall von vier Spannungstransformatoren und Fehlfunktionen der Kühlsysteme, während sich in der Bauphase acht bekannte Zwischenfälle ereigneten, darunter zwei im Zusammenhang mit dem Reaktordruckbehälter;
6. stellt fest, dass bei der Peer-Review der EU im Jahr 2018 zahlreiche Mängel aufgedeckt wurden, dass bislang nur eine begrenzte Anzahl der darin enthaltenen Empfehlungen umgesetzt worden sein soll und dass deren Umsetzung von den EU-Sachverständigen überprüft werden muss;
7. stellt fest, dass die Anzahl und Häufigkeit von Sicherheitsvorfällen Anlass zu großer Besorgnis geben, was die unzureichende Qualitätssicherung und -kontrolle in der Entwurfs-, Bau- und Montagephase des Kernkraftwerks und seine geringe Betriebssicherheit anbelangt, und dass diese Probleme im Rahmen der Peer-Review der EU angemessen angegangen werden müssen;
8. fordert Belarus nachdrücklich auf, umgehend für die uneingeschränkte Einhaltung internationaler Normen im Bereich der nuklearen Sicherheit und des Umweltschutzes sowie die transparente und konstruktive Zusammenarbeit mit den internationalen Behörden unter Einbeziehung aller Beteiligten zu sorgen; legt Belarus nahe, künftig von der selektiven Anwendung der IAEO-Normen und der Peer-Review-Empfehlungen abzusehen;
9. stellt fest, dass den nuklearen Sicherheitsstandards höchste Priorität eingeräumt werden muss, und zwar nicht nur während der Planungs- und Bauphase, sondern auch während des Betriebs des Kernkraftwerks, und dass deren Einhaltung ständig von einer unabhängigen Aufsichtsbehörde überwacht werden muss;
10. ist besorgt darüber, dass die derzeitige belarussische Aufsichtsbehörde (Gosatomnadsor – Abteilung für nukleare Sicherheit und Strahlensicherheit des Ministeriums für Notsituationen) ständigem politischen Druck ausgesetzt ist und sowohl formal als auch inhaltlich nicht ausreichend unabhängig ist; betont daher, dass transparente und sorgfältige Peer-Reviews auch während der Betriebsphase des Kernkraftwerks von entscheidender Bedeutung sind;
11. nimmt den Beschluss der Vertragsparteien des Übereinkommens der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Europa (UNECE) über die Umweltverträglichkeitsprüfung im grenzüberschreitenden Rahmen (Übereinkommen von Espoo) vom 11. Dezember 2020 zur Kenntnis, wonach Belarus seinen Verpflichtungen aus dem Übereinkommen in Bezug auf das belarussische Kernkraftwerk in Astrawez nachkommt, und fordert Belarus nachdrücklich auf, die vollständige Umsetzung des Übereinkommens von Espoo sicherzustellen;
12. betont, dass ein Frühwarnsystem für die Messung der Strahlung in den Mitgliedstaaten der EU in der Nähe des Kernkraftwerks errichtet und betrieben werden muss;
13. fordert die belarussischen Behörden nachdrücklich auf, bei den Verfahren der kerntechnischen Risiko- und Sicherheitsbewertung uneingeschränkt mit der ENSREG zusammenzuarbeiten, was auch eine förmliche Überprüfung und die dringende Umsetzung des nationalen Aktionsplans von Belarus einschließt;
14. bedauert, dass eine Peer-Review-Mission der ENSREG im Kernkraftwerk Astrawez, die ursprünglich im Dezember 2020 stattfinden sollte, aus organisatorischen Gründen seitens des Gastgebers und infolge der COVID-19-Pandemie abgesagt werden musste;
15. begrüßt, dass Anfang Februar 2021 die erste Phase der derzeitigen Peer-Review der EU in Form eines Besuchs vor Ort stattfindet; erachtet es als sehr wichtig, dass das Peer-Review-Verfahren rasch abgeschlossen wird und seine Ergebnisse veröffentlicht werden, und betont, dass Belarus bereits vor März 2021 – dem von den belarussischen Behörden geplanten Zeitpunkt der kommerziellen Inbetriebnahme des Kernkraftwerks – zumindest ein vorläufiger Bericht übermittelt werden sollte; stellt fest, dass alle Sicherheitsprobleme gleichermaßen wichtig sind und vor der kommerziellen Inbetriebnahme des Kernkraftwerks angegangen werden müssen;
16. bedauert zutiefst die übereilte kommerzielle Inbetriebnahme des Kernkraftwerks im März 2021 und betont, dass alle Sicherheitsempfehlungen der ENSREG umgesetzt werden müssen, bevor das Kernkraftwerk seinen kommerziellen Regelbetrieb aufnimmt; fordert die Kommission auf, eng mit den belarussischen Behörden zusammenzuarbeiten, damit das Inbetriebnahmeverfahren ausgesetzt wird, bis alle Empfehlungen aus dem Verfahren der kerntechnischen Risiko- und Sicherheitsbewertung der EU vollständig umgesetzt, alle erforderlichen Sicherheitsverbesserungen vorgenommen und die belarussische Gesellschaft und die Nachbarländer ordnungsgemäß über die ergriffenen Maßnahmen informiert worden sind;
17. fordert die Kommission und die ENSREG nachdrücklich auf, die transparente und sorgfältige Peer-Review des Kernkraftwerks fortzusetzen, auf der umgehenden Umsetzung aller Empfehlungen zu bestehen und für deren wirksame Überwachung zu sorgen, auch durch regelmäßige Besuche des Peer-Review-Teams auf dem Gelände des Kernkraftwerks Astrawez und auch während des Betriebs der Anlage; erachtet in diesem Zusammenhang die effiziente Zusammenarbeit mit der IAEO als sehr wichtig;
18. stellt fest, dass trotz der gemeinsamen Vereinbarung der baltischen Staaten, den kommerziellen Stromhandel mit Belarus einzustellen, nach wie vor Strom aus Belarus über das russische Netz auf den Binnenmarkt gelangen kann;
19. weist erneut auf die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 10./11. Dezember 2020 hin und spricht sich dafür aus, weiter zu prüfen, mit welchen Maßnahmen verhindert werden könnte, dass in Drittstaaten kommerziell erzeugter Strom aus Kernkraftwerken, die – wie auch das Kernkraftwerk Astrawez – nicht den anerkannten Sicherheitsstandards der EU entsprechen, in die EU eingeführt wird;
20. fordert die Kommission auf, mit den Verpflichtungen aus dem internationalen Handels-, Energie- und Atomrecht im Einklang stehende Maßnahmen zur Aussetzung des Stromhandels mit Belarus zu prüfen und vorzuschlagen, damit der im Kernkraftwerk Astrawez erzeugte Strom nicht auf den EU-Energiemarkt gelangt, während Estland, Lettland und Litauen noch Teil des BRELL-Verbundnetzes sind;
21. bekräftigt, dass es von strategischer Bedeutung ist, die Synchronisierung des baltischen Stromnetzes mit dem kontinentaleuropäischen Verbundnetz zu beschleunigen, und betont, dass der künftige Betrieb des Kernkraftwerks Astrawez die Desynchronisierung der Stromnetze Estlands, Lettlands und Litauens aus dem BRELL-Verbundnetz in keiner Weise behindern sollte und dass die Europäische Union die Einbindung der drei baltischen Staaten in das Stromnetz der EU fortsetzen sollte;
22. bringt seine uneingeschränkte Solidarität mit den Bürgerinnen und Bürgern der Republik Belarus und der EU-Mitgliedstaaten zum Ausdruck, die unmittelbar vom Bau und Betrieb des Kernkraftwerks Astrawez betroffen sind, und fordert, dass die EU und ihre Organe auch künftig auf hoher Ebene in diese Angelegenheit von höchster europäischer Bedeutung einbezogen werden;
23. beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung der Kommission und dem Rat sowie den Regierungen und Parlamenten der Mitgliedstaaten zu übermitteln.