Beschluss des Europäischen Parlaments vom 14. September 2021 über den Antrag auf Schutz der Vorrechte und der Immunität von Guy Verhofstadt (2021/2030(IMM))
Das Europäische Parlament,
– befasst mit einem am 12. März 2021 von Guy Verhofstadt übermittelten und am 24. März 2021 im Plenum bekanntgegebenen Antrag auf Schutz seiner Vorrechte und seiner Immunität im Zusammenhang mit der Einleitung eines Strafverfahrens vor der „Procura Distrettuale della Repubblica presso il Tribunale di Trento“ in Italien,
– nach Anhörung von Guy Verhofstadt gemäß Artikel 9 Absatz 6 seiner Geschäftsordnung,
– gestützt auf die Artikel 8 und 9 des Protokolls Nr. 7 über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union und auf Artikel 6 Absatz 2 des Aktes vom 20. September 1976 zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Mitglieder des Europäischen Parlaments,
– unter Hinweis auf die Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 21. Oktober 2008, 19. März 2010, 6. September 2011, 17. Januar 2013 und 19. Dezember 2019(1),
– gestützt auf Artikel 5 Absatz 2 und die Artikel 7 und 9 seiner Geschäftsordnung,
– unter Hinweis auf den Bericht des Rechtsausschusses (A9-0238/2021),
A. in der Erwägung, dass Guy Verhofstadt, Mitglied des Europäischen Parlaments, den Schutz seiner parlamentarischen Immunität im Zusammenhang mit der Einleitung eines Strafverfahrens vor der „Procura Distrettuale della Repubblica presso il Tribunale di Trento“ (Italien) wegen mutmaßlicher Verleumdung in einem sozialen Netzwerk beantragt hat; in der Erwägung, dass die „Procura Distrettuale della Repubblica presso il Tribunale di Trento“ ihre Voruntersuchung in der Sache am 22. Dezember 2020 abgeschlossen hat;
B. in der Erwägung, dass Guy Verhofstadt am 13. Februar 2020 auf seinem eigenen Twitter-Profil den folgenden Tweet veröffentlicht hat: „Matteo Salvini wird angeklagt, weil er Migranten illegal auf dem Meer festgehalten hat, nachdem sie von der Gregoretti gerettet worden waren. Bravo Italien! Der Gerechtigkeit muss Genüge getan werden. Hoffen wir, dass das gleiche mit seiner massiven Korruption mit russischen Öl-Bestechungsgeldern passiert!“;
C. in der Erwägung, dass Guy Verhofstadt mit diesen Äußerungen angeblich das Mitglied des italienischen Parlaments im Sinne von Artikel 595 Absätze 1 und 3 des italienischen Strafgesetzbuchs verleumdet hat;
D. in der Erwägung, dass die Mitglieder des Europäischen Parlaments gemäß Artikel 8 des Protokolls Nr. 7 über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union nicht wegen einer in Ausübung ihres Amtes erfolgten Äußerung oder Abstimmung in ein Ermittlungsverfahren verwickelt, festgenommen oder verfolgt werden dürfen;
E. in der Erwägung, dass das Parlament bei der Frage, woran es seine Entscheidung über einen Antrag eines Mitglieds auf Schutz der Immunität orientieren möchte, einen großen Ermessensspielraum hat;(2)
F. in der Erwägung, dass das Parlament gemäß Artikel 5 seiner Geschäftsordnung bei der Wahrnehmung seiner Befugnisse hinsichtlich der Vorrechte und Befreiungen so handelt, dass es seine Integrität als demokratische gesetzgebende Versammlung bewahrt und die Unabhängigkeit seiner Mitglieder bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben sicherstellt;
G. in der Erwägung, dass eine Erklärung eines Mitglieds außerhalb des Europäischen Parlaments eine in Ausübung seines Amtes erfolgte Äußerung im Sinne von Artikel 8 des Protokolls Nr. 7 über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union darstellen kann, wenn sie eine subjektive Beurteilung enthält, die einen unmittelbaren und offensichtlichen Zusammenhang mit der Ausübung des Mandats dieses Mitglieds im Europäischen Parlament aufweist; in der Erwägung, dass die Frage, ob dies der Fall ist, nach Art und Inhalt der Äußerung beurteilt werden muss und nicht nach dem Ort, an dem sie gemacht wurde;
H. in der Erwägung, dass die besondere Art und auch der Inhalt der Erklärung auch im Lichte des Kontextes und der Rolle und Position, in der das Mitglied die Erklärung abgegeben hat, bewertet werden sollte;
I. in der Erwägung, dass die Erklärungen von Guy Verhofstadt in seinem Tweet eindeutig in seiner Eigenschaft als Mitglied des Europäischen Parlaments auf seinem Twitter-Konto abgegeben wurden, das laut Guy Verhofstadt ausschließlich seiner politischen Kommunikation im Rahmen der Ausübung seines Mandats als Mitglied des Europäischen Parlaments vorbehalten ist;
J. in der Erwägung, dass die politische Debatte, an der Mitglieder des Europäischen Parlaments im Rahmen der Ausübung ihres Mandats teilnehmen, heutzutage zunehmend auch außerhalb der Räumlichkeiten des Parlaments stattfindet, unter anderem über das Internet oder über soziale Netzwerke wie Twitter;
K. in der Erwägung, dass diese Erklärung im breiteren Kontext des politischen Meinungsaustauschs abgegeben wurde, und dieses Thema im Plenum des Europäischen Parlaments wiederholt Gegenstand von Debatten ist, sowie in vielen Medien;
L. in der Erwägung, dass Guy Verhofstadt in diesem Zusammenhang sowohl vor als auch nach der in Rede stehenden Erklärung von Twitter ähnliche Ansichten im Internet zum Ausdruck gebracht hat, beispielsweise auf Facebook im Januar 2019, mehr als ein Jahr vor der Erklärung auf Twitter, was die angeblichen Verbindungen von Salvini zu Russland betrifft(3), oder in der Erwägung, dass Guy Verhofstadt mehrere Monate später in einem ähnlichen politischen Kontext während der Plenardebatte zur Lage der Union am 16. September 2020 Erklärungen abgegeben hat;
M. in der Erwägung, dass vor diesem Hintergrund davon ausgegangen werden kann, dass ein unmittelbarer und offensichtlicher Zusammenhang zwischen der in Rede stehenden Erklärung und dem parlamentarischen Mandat von Guy Verhofstadt als Mitglied des Europäischen Parlaments besteht;
1. beschließt, die Vorrechte und die Immunität von Guy Verhofstadt zu schützen;
2. beauftragt seinen Präsidenten, diesen Beschluss und den Bericht seines zuständigen Ausschusses unverzüglich den zuständigen italienischen Behörden und Guy Verhofstadt zu übermitteln.
Urteil des Gerichtshofs vom 21. Oktober 2008, Marra/De Gregorio und Clemente, C-200/07 und C-201/07, ECLI:EU:C:2008:579; Urteil des Gerichts vom 19. März 2010, Gollnisch/Parlament, T-42/06, ECLI:EU:T:2010:102; Urteil des Gerichtshofs vom 6. September 2011, Patriciello, C-163/10, ECLI: ECLI :EU :C :2011 :543 Urteil des Gerichts vom 17. Januar 2013, Gollnisch/Parlament, T-346/11 und T-347/11, ECLI:EU:T:2013:23. Urteil des Gerichtshofs vom 19. Dezember 2019, Junqueras Vies, C-502/19, ECLI:EU:C:2019:1115.
Facebook-Post, 9. Januar 2019: „Kein Putin-T-Shirt heute für Herrn Salvini! Stattdessen ein Polizeioutfit. Aber Herr Salvini hat einen Pakt mit Putins Partei „Einiges Russland“, & das polnische Volk kann ihm nicht vertrauen.“