Entschließung des Europäischen Parlaments vom 9. Juni 2022 zu einem neuen Instrument zum Verbot von Produkten, die in Zwangsarbeit hergestellt wurden (2022/2611(RSP))
Das Europäische Parlament,
– unter Hinweis auf die Rede zur Lage der Union, die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am 15. September 2021 hielt,
– unter Hinweis auf den Vorschlag der Kommission vom 23. Februar 2022 für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Sorgfaltspflichten von Unternehmen im Hinblick auf Nachhaltigkeit und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2019/1937 (COM(2022)0071),
– unter Hinweis auf die Mitteilung der Kommission vom 23. Februar 2022 über menschenwürdige Arbeit weltweit für einen globalen gerechten Übergang und eine nachhaltige Erholung (COM(2022)0066),
– unter Hinweis auf die Leitlinien der Kommission und des Europäischen Auswärtigen Dienstes vom 12. Juli 2021 über die Sorgfaltspflichten von in der EU tätigen Unternehmen, um dem Risiko der Zwangsarbeit im Rahmen ihrer Tätigkeiten und Lieferketten zu begegnen,
– unter Hinweis auf seine Entschließung vom 17. Dezember 2020 zu Zwangsarbeit und der Lage der Uiguren im Uigurischen Autonomen Gebiet Xinjiang(1),
– unter Hinweis auf seine Entschließung vom 16. Dezember 2021 zu Zwangsarbeit in der Fabrik von Linglong und Umweltprotesten in Serbien(2),
– unter Hinweis auf seine Entschließung vom 10. März 2021 mit Empfehlungen an die Kommission zur Sorgfaltspflicht und Rechenschaftspflicht von Unternehmen(3),
– unter Hinweis auf das Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) über Zwangsarbeit von 1930 und das dazugehörige Protokoll von 2014,
– unter Hinweis auf das Übereinkommen der IAO über die schlimmsten Formen der Kinderarbeit von 1999,
– unter Hinweis auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948,
– unter Hinweis auf die Leitprinzipien der Vereinten Nationen für Wirtschaft und Menschenrechte,
– unter Hinweis auf die OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen,
– unter Hinweis auf die Anfrage an die Kommission zu einem neuen Instrument zum Verbot von Produkten, die in Zwangsarbeit hergestellt wurden (O-000018/2022 – B9-0015/2022),
– gestützt auf Artikel 136 Absatz 5 und Artikel 132 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung,
– unter Hinweis auf den Entschließungsantrag des Ausschusses für internationalen Handel,
A. in der Erwägung, dass Zwangsarbeit im Übereinkommen der IAO über Zwangsarbeit, 1930 (Nr. 29) definiert ist als „jede Art von Arbeit oder Dienstleistung, die von einer Person unter Androhung irgendeiner Strafe verlangt wird und für die sie sich nicht freiwillig zur Verfügung gestellt hat“; in der Erwägung, dass die IAO elf Indikatoren nutzt, um Zwangsarbeit zu erkennen; in der Erwägung, dass die Indikatoren wie folgt lauten: Ausnutzung der Schutzbedürftigkeit, Täuschung, Einschränkung der Bewegungsfreiheit, Isolation, physische und sexuelle Gewalt, Einschüchterung und Bedrohung, Einbehaltung von Ausweisen, Einbehaltung von Lohnzahlungen, Schuldknechtschaft, ausbeuterische Arbeits- und Lebensbedingungen sowie Arbeitszeitüberschreitungen in hohem Maße; in der Erwägung, dass mitunter mehr als einer der aufgeführten Indikatoren nötig ist, um Zwangsarbeit festzustellen;
B. in der Erwägung, dass laut Schätzungen der IAO derzeit 25 Millionen Menschen weltweit von Zwangsarbeit betroffen sind, davon 20,8 Millionen in der Privatwirtschaft und 4,1 Millionen in staatlich verordneter Zwangsarbeit; in der Erwägung, dass Frauen und Mädchen 61 % der von Zwangsarbeit Betroffenen ausmachen; in der Erwägung, dass Wanderarbeitnehmer besonders durch Zwangsarbeit gefährdet sind; in der Erwägung, dass sich die Situation durch die COVID-19-Pandemie verschärft hat;
C. in der Erwägung, dass nach den aktuellen globalen Schätzungen der IAO Anfang 2020 weltweit 160 Millionen Kinder von Kinderarbeit betroffen waren, was fast 1 von 10 aller Kinder weltweit entspricht; in der Erwägung, dass 79 Millionen Kinder – nahezu die Hälfte der von Zwangsarbeit betroffenen Kinder – Opfer der schlimmsten Formen der Kinderarbeit unter gefährlichen Bedingungen sind, die ihre Gesundheit, Sicherheit und moralische Entwicklung unmittelbar zu schädigen drohen;
D. in der Erwägung, dass die Forschung gezeigt hat, dass Zwangsarbeit eine nachhaltige Entwicklung behindert und sich negativ auf intergenerationale Armut, Ungleichheit und Regierungsführung auswirkt sowie Korruption und illegalen Geldflüssen Vorschub leistet;
E. in der Erwägung, dass die EU-Wirtschaft mit Millionen von Arbeitskräften rund um die Welt durch globale Lieferketten verknüpft ist; in der Erwägung, dass sich die Verbraucher in der EU Gewissheit darüber wünschen, dass die von ihnen gekauften Produkte auf nachhaltige und faire Weise unter für die Produzierenden menschenwürdigen Arbeitsbedingungen produziert werden;
F. in der Erwägung, dass Zwangsarbeit ein nicht eingepreister externer Faktor ist, der Innovation und Produktivität hemmt und Unternehmen und Regierungen, die Zwangsarbeit unterstützen, einen unfairen Wettbewerbsvorteil verleiht;
G. in der Erwägung, dass Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in ihrer Rede zur Lage der Union 2021 bestätigte, dass die Kommission in der EU ein Verbot von Produkten, die in Zwangsarbeit hergestellt wurden, vorschlagen werde;
H. in der Erwägung, dass die Kommission in ihrem Vorschlag für eine Verordnung über die Sorgfaltspflichten von Unternehmen im Hinblick auf Nachhaltigkeit Sorgfaltspflichten für große Unternehmen über einem bestimmten Schwellenwert und für bestimmte andere Unternehmen in besonders empfindlichen Sektoren festlegt, um tatsächliche und potenzielle negative Auswirkungen auf die Menschenrechte, einschließlich der Arbeitnehmerrechte, und auf die Umwelt entlang globaler Lieferketten zu ermitteln, zu verhindern, zu mindern und Rechenschaft darüber abzulegen;
I. in der Erwägung, dass die Kommission in ihrer Mitteilung vom 23. Februar 2022 über menschenwürdige Arbeit weltweit für einen globalen gerechten Übergang und eine nachhaltige Erholung (COM(2022)0066) ihre Pläne dafür vorstellt, eine neue Gesetzgebungsinitiative vorzubereiten, mit der das Inverkehrbringen von Produkten, die in Zwangsarbeit, einschließlich Kinderzwangsarbeit, hergestellt wurden, in der EU verboten werden soll; in der Erwägung, dass diese Initiative sowohl für einheimische als auch für eingeführte Produkte gelten wird und ein Verbot in Verbindung mit einem robusten, risikobasierten Durchsetzungsrahmen vorsieht;
J. in der Erwägung, dass Zwangsarbeit ein komplexes Phänomen ist und ein Verbot von Produkten aus Zwangsarbeit nicht ausreichen wird, um Zwangsarbeit abzuschaffen und das Problem an der Wurzel zu packen; in der Erwägung, dass sich die EU zur Bewältigung dieses globalen Problems zudem auf einen Dialog mit Nicht-EU-Staaten, technische Hilfe, Kapazitätsaufbau und Aufklärung konzentrieren sollte; in der Erwägung, dass die EU zudem auf multilateraler Ebene aktiv werden sollte, um gemeinsame Lösungen zur Abschaffung der Zwangsarbeit zu finden;
K. in der Erwägung, dass eine Reihe von in der EU tätigen Unternehmen verschiedene freiwillige und sich überschneidende Leitlinien zu verantwortungsvollem unternehmerischem Handeln befolgt, jedoch deren Anwendung noch zu wünschen übrig lässt; in der Erwägung, dass die EU in bestimmten Sektoren wie in der Holzwirtschaft und der Beschaffung von sogenannten Konfliktmineralien bereits über entsprechende obligatorische Sorgfaltsvorschriften verfügt;
L. in der Erwägung, dass die Wirksamkeit eines Ausschlusses von Produkten aus Zwangsarbeit von verschiedenen Faktoren wie dem vom Boykott betroffenen Anteil an der globalen sektoralen Nachfrage; den Kosten und der Machbarkeit einer Handelsumlenkung, Verlagerung von Handelsströmen oder eines Produktwechsels für Ausfuhrunternehmen; der Marktmacht der Lieferanten; und davon, wie der Staat, in dem die Zwangsarbeit stattfindet, auf einen Druck von außen reagiert, abhängig sein wird;
M. in der Erwägung, dass mehrere Werkzeuge kombiniert werden müssen, um die verschiedenen Probleme zu lösen, die mit der Zwangsarbeit zusammenhängen;
N. in der Erwägung, dass jeder Ausschluss von Produkten zur Einhaltung von WTO-Regelungen so gestaltet sein muss, dass eine Verletzung von Freihandelsabkommen vermieden wird, laut denen Waren nicht aufgrund ihres geografischen Ursprungs diskriminiert werden dürfen; in der Erwägung, dass Artikel XX des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens die rechtlichen Grundlagen dafür schafft, Entscheidungen zum Ausschluss von Produkten zu begründen; in der Erwägung, dass ein derartiger Ausschluss belegbar sein muss und ihm eine Anhörung der betroffenen Parteien vorausgehen muss;
O. in der Erwägung, dass die Einführung eines Verbots von Produkten, die in Zwangsarbeit hergestellt wurden, eine politische Priorität für sowohl das Parlament als auch die EU im Ganzen darstellt;
1. fordert ein neues WTO-konformes Instrument als Ergänzung der Sorgfaltspflichten von Unternehmen im Hinblick auf Nachhaltigkeit, mit dem die Ein- und Ausfuhr von Produkten, die in Zwangsarbeit hergestellt oder befördert wurden, verboten werden und das durch Maßnahmen für den innergemeinschaftlichen Handel ergänzt werden sollte; betont, dass ein künftiger EU-Rahmen verhältnismäßig, diskriminierungsfrei und wirksam sein und das Bekenntnis zu einem offenen und regelbasierten Handelssystem achten muss; unterstreicht, dass der neue Vorschlag auf die bewährten Verfahren von Ländern mit ähnlichen Rechtsvorschriften gestützt werden könnte, wie den USA und Kanada;
2. betont, dass zur Feststellung eines Rückgriffs auf Zwangsarbeit die Indikatoren der IAO für Zwangsarbeit herangezogen werden sollten, einschließlich ihrer Leitlinien für Erhebungen zur Zwangsarbeit „Hard to see, harder to count – Survey guidelines to estimate forced labour of adults and children“;
3. vertritt die Auffassung, dass das neue Instrument Verbote von Produkten aus Zwangsarbeit von einer bestimmten Produktionsstätte, einem bestimmten Importeur oder Unternehmen, aus einem bestimmten Gebiet im Fall von staatlich unterstützter Zwangsarbeit und von einem bestimmten Frachtschiff oder einer bestimmten Flotte vorsehen sollte;
4. vertritt die Auffassung, dass staatliche Behörden im Rahmen des neuen EU-Instruments auf eigene Initiative oder nach Eingang entsprechender Informationen Waren an der EU-Grenze in Verwahrung nehmen sollten, wenn ihrer Ansicht nach genügend Beweise dafür vorliegen, dass die Waren in Zwangsarbeit hergestellt oder befördert wurden; stellt fest, dass der Importeur der in Verwahrung genommenen Waren dann die Möglichkeit erhalten sollte, den Vorwurf zu entkräften, indem er nachweist, dass die Waren nicht in Zwangsarbeit hergestellt oder befördert wurden, woraufhin die Waren ggf. freigegeben werden; unterstreicht, dass sich der Nachweis für ein Nichtvorliegen von Zwangsarbeit nach IAO-Normen richten sollte;
5. stellt fest, dass Produkte beschlagnahmt werden sollten, nachdem staatliche Behörden anhand genügender Beweise festgestellt haben, dass Zwangsarbeit zur Herstellung oder Beförderung der Waren genutzt wurde, oder wenn die Waren aus einem bestimmten Gebiet stammen, in dem staatlich verordnete Zwangsarbeit vorherrscht; betont, dass die beschlagnahmte Fracht freigegeben wird, wenn das Unternehmen nachweisen kann, dass keine Zwangsarbeit genutzt wurde oder dass Abhilfe geschaffen wurde und die Indikatoren für Zwangsarbeit nicht mehr vorliegen;
6. erkennt an, dass sich eine Reihe von in der EU tätigen Unternehmen bereits darum bemüht, dass keine Praktiken in ihren Lieferketten angewandt werden, durch die Menschenrechte und Arbeitnehmerrechte verletzt werden; fordert die Kommission auf, Unternehmen, insbesondere KMU, technische und sonstige geeignete Unterstützung zur Einhaltung der neuen Vorschriften anzubieten, um unnötige Belastungen für KMU zu vermeiden; fordert die Kommission außerdem auf, die Anwendung des Instruments und seine Auswirkungen auf in der EU tätige Unternehmen zu bewerten;
7. ist der Ansicht, dass die Kommission, insbesondere der Leitende Handelsbeauftragte, sowie nationale Behörden befugt sein müssen, Untersuchungen einzuleiten; stellt fest, dass es staatlichen Behörden möglich sein sollte, auf Auskünfte von Interessenträgern, NRO oder betroffenen Arbeitnehmern hin und über ein formelles und sicheres Beschwerdeverfahren, wie über die zentrale Anlaufstelle, zu handeln;
8. fordert die Kommission auf, dafür zu sorgen, dass die verantwortlichen Unternehmen im Rahmen des neuen EU-Instruments Abhilfe für die betroffenen Arbeitnehmer schaffen müssen, bevor Einfuhrbeschränkungen aufgehoben werden; fordert, dass eine Überwachung von Abhilfe- und Korrekturmaßnahmen in Zusammenarbeit mit einschlägigen Interessenträgern, einschließlich Organisationen der Zivilgesellschaft und Gewerkschaften, durchgeführt wird;
9. ist der Ansicht, dass das Koordinierungssystem auf EU-Ebene eingerichtet werden sollte, um die Zollbehörden der Mitgliedstaaten zu unterstützten und bei sämtlichen eingeleiteten Verfahren für Transparenz zu sorgen;
10. betont, dass Unternehmen von staatlichen Behörden aufgefordert werden können, sachdienliche Informationen über Tochtergesellschaften, Lieferanten, Unterlieferanten, Auftragnehmer und Geschäftspartner in der Lieferkette unter Wahrung des Geschäftsgeheimnisses offenzulegen; fordert die Kommission daher auf, Leitlinien zu erstellen, um Unternehmen dabei zu unterstützen, ein Verfahren zur Bestandsaufnahme von Lieferketten zu schaffen, mit dem festgelegt wird, was unter sachdienlichen Informationen zu verstehen ist; unterstreicht, dass sich der Verwaltungsaufwand für Unternehmen durch eine öffentliche Datenbank mit Informationen zu einzelnen Lieferanten, dem mit ihnen verbundenen Risiko oder aber Nachweisen für menschenwürdige Arbeit verringern ließe;
11. fordert, dass ein öffentliches Verzeichnis der mit Sanktionen belegten Einrichtungen, Gebiete und Produkte erstellt und geführt wird;
12. betont, wie wichtig die Zusammenarbeit mit gleichgesinnten Partnern ist, um Zwangsarbeit weltweit abzuschaffen und den Handel mit Waren, die in Zwangsarbeit hergestellt wurden, zu unterbinden; stellt fest, dass gemeinsame Bemühungen erforderlich sind, damit das Verbot nicht umgangen wird und Waren, die vermutlich in Zwangsarbeit hergestellt wurden, nicht umgeleitet werden können;
13. ist der Ansicht, dass die EU durch gemeinsame Maßnahmen und Untersuchungen eng mit ihren Partnern zusammenarbeiten sollte, um weltweit eine Änderung zu bewirken; fordert eine aktive Rolle von EU-Delegationen im Dialog über mit der neuen Gesetzgebung verbundene Problemen mit Drittländern und Interessenträgern;
14. stellt fest, dass das neue Instrument zum Verbot von Produkten, die in Zwangsarbeit hergestellt wurden, kohärent sein und sich mit anderen Initiativen zur Sorgfaltspflicht sowie Menschenrechten und geltenden Bestimmungen zur Nachhaltigkeit ergänzen sollte; stellt fest, dass dies bei der Überprüfung des 15-Punkte-Aktionsplans zu den Kapiteln über Handel und nachhaltige Entwicklung und bei den nachfolgenden Kapiteln über Handel und nachhaltige Entwicklung in Freihandelsabkommen der EU berücksichtigt werden sollte;
15. fordert den Rückgriff auf öffentliche und private Investitionen, um in den betroffenen Lieferketten zusätzliche Produktionskapazitäten zu entwickeln, die frei von Zwangsarbeit sind;
16. beauftragt seine Präsidentin, diese Entschließung der Kommission, dem Rat und den Mitgliedstaaten zu übermitteln.