Bewertung der Einhaltung der Rechtsstaatlichkeitsbedingungen durch Ungarn im Rahmen der Konditionalitätsverordnung sowie des Stands des ungarischen Aufbau- und Resilienzplans
Entschließung des Europäischen Parlaments vom 24. November 2022 zur Bewertung der Einhaltung der in der Konditionalitätsverordnung niedergelegten Rechtsstaatlichkeitsbedingungen durch Ungarn und zum Stand des ungarischen Aufbau- und Resilienzplans (2022/2935(RSP))
Das Europäische Parlament,
– unter Hinweis auf die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden „Charta“),
– unter Hinweis auf den Vertrag über die Europäische Union (EUV), insbesondere auf Artikel 2, Artikel 4 Absatz 3 und Artikel 7 Absatz 1,
– unter Hinweis auf die Europäische Menschenrechtskonvention und die dazugehörigen Protokolle,
– unter Hinweis auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte,
– unter Hinweis auf die internationalen Menschenrechtsverträge der Vereinten Nationen und des Europarates,
– unter Hinweis auf die Verordnung (EU, Euratom) 2020/2092 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2020 über eine allgemeine Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts der Union(1) (Konditionalitätsverordnung),
– unter Hinweis auf die Verordnung (EU) 2021/241 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Februar 2021 zur Einrichtung der Aufbau- und Resilienzfazilität(2),
– unter Hinweis auf die Verordnung (EU) 2021/1060 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Juni 2021 zur Festlegung der gemeinsamen Bestimmungen für den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds Plus, den Kohäsionsfonds, den Fonds für einen gerechten Übergang und den Europäischen Meeres-, Fischerei- und Aquakulturfonds sowie mit Haushaltsvorschriften für diese Fonds und für den Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds, den Fonds für die innere Sicherheit und das Instrument für finanzielle Hilfe im Bereich Grenzverwaltung und Visa(3),
– unter Hinweis auf die Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) vom 3. Juni 2021 in der Rechtssache C-650/18 über die Abweisung der Klage Ungarns gegen die Entschließung des Parlaments vom 12. September 2018, mit der das Verfahren eingeleitet wurde, um festzustellen, ob eine eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Werte, auf die sich die Europäische Union gründet, durch einen Mitgliedstaat besteht(4),
– unter Hinweis auf die Ungarn betreffenden Länderkapitel in den jährlichen Berichten der Kommission über die Rechtsstaatlichkeit, insbesondere in den Berichten von 2021 und 2022,
– unter Hinweis auf die Rechtsprechung des EuGH,
– unter Hinweis auf seine früheren Entschließungen, insbesondere die Entschließungen vom 15. September 2022 zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates gemäß Artikel 7 Absatz 1 EUV zur Feststellung der eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Werte, auf die sich die Union gründet, durch Ungarn(5), vom 9. Juni 2022 zur Rechtsstaatlichkeit und zur möglichen Billigung des polnischen nationalen Aufbauplans (ARF)(6), vom 5. Mai 2022 zu den laufenden Anhörungen gemäß Artikel 7 Absatz 1 EUV zu Polen und Ungarn(7), vom 10. März 2022 zur Rechtsstaatlichkeit und den Konsequenzen des Urteils des EuGH(8), vom 8. Juli 2021 zu Verstößen gegen das EU-Recht und die Rechte von LGBTIQ-Bürgern in Ungarn infolge der im ungarischen Parlament angenommenen Gesetzesänderungen(9) und vom 10. Juni 2021 zur Lage der Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union und Anwendung der Konditionalitätsverordnung (EU, Euratom) 2020/2092(10),
– unter Hinweis auf die schriftliche Mitteilung, die am 27. April 2022 von der Kommission gemäß Artikel 6 Absatz 1 der Konditionalitätsverordnung an die ungarische Regierung übermittelt wurde,
– unter Hinweis auf die Abhilfemaßnahmen, über die die ungarische Regierung die Kommission mit Schreiben vom 22. August 2022 in Kenntnis gesetzt hat,
– unter Hinweis auf den Vorschlag der Kommission vom 18. September 2022 für einen Durchführungsbeschluss des Rates über Maßnahmen zum Schutz des Haushalts der Union vor Verstößen gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn (COM(2022)0485),
– unter Hinweis darauf, dass Ungarn im Jahr 2022 im Rechtsstaatlichkeitsindex des World Justice Project auf Platz 73 von 140 Ländern liegt und in der Ländergruppe EU, Europäische Freihandelsassoziation und Nordamerika am schlechtesten abschneidet,
– gestützt auf Artikel 132 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung,
A. in der Erwägung, dass sich die Union auf die Werte der Achtung der Menschenwürde, der Freiheit, der Demokratie, der Gleichheit, der Rechtsstaatlichkeit und der Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören, gründet, die in Artikel 2 EUV festgelegt sind, in der Charta zum Ausdruck kommen und in internationalen Menschenrechtsübereinkommen verankert sind; in der Erwägung, dass diese Werte, die allen Mitgliedstaaten gemeinsam sind und zu denen sich alle Mitgliedstaaten aus freien Stücken bekannt haben, die Grundlage der Rechte darstellen, die allen in der Union lebenden Personen zustehen;
B. in der Erwägung, dass die in der Konditionalitätsverordnung vorgesehenen Maßnahmen von der Kommission umgesetzt werden können, wenn Verstöße gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit die wirtschaftliche Haushaltsführung der Union unmittelbar beeinträchtigen oder ernsthaft zu beeinträchtigen drohen;
C. in der Erwägung, dass die Kommission am 18. September 2022 Maßnahmen zum Schutz des Haushalts gemäß der Konditionalitätsverordnung in die Wege geleitet hat, und zwar mithilfe eines Vorschlags für einen Durchführungsbeschluss des Rates zur Gewährleistung des Schutzes der finanziellen Interessen der EU vor Verstößen gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn, der Folgendes vorsieht: die Aussetzung von 65 % der Mittelbindungen für drei Programme im Rahmen der Kohäsionspolitik bzw. die Aussetzung der Genehmigung der betreffenden drei Programme sowie – in Bezug auf Programme mit direkter und indirekter Mittelverwaltung – ein Verbot, neue rechtliche Verpflichtungen mit Trusts von öffentlichem Interesse und von diesen unterhaltenen Einrichtungen einzugehen;
D. in der Erwägung, dass die von der ungarischen Regierung ergriffenen Abhilfemaßnahmen nicht ausreichen, um nachzuweisen, dass Verstöße gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn die wirtschaftliche Führung des Haushalts der Union oder den Schutz der finanziellen Interessen der Union nicht mehr beeinträchtigen oder ernsthaft zu beeinträchtigen drohen, und dass sie nicht ausreichen, um die begrenzte Anzahl von Mängeln zu beheben, die von der Kommission ausgewählt wurden und im Entwurf des Durchführungsbeschlusses des Rates behandelt werden, sowie in der Erwägung, dass selbst die vollständige Umsetzung dieser Maßnahmen wahrscheinlich nicht geeignet wäre, den Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit, die die Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung der EU in Ungarn beeinträchtigen oder ernsthaft zu beeinträchtigen drohen, abzuhelfen; in der Erwägung, dass diese Abhilfemaßnahmen nicht geeignet wären, andere Verstöße gegen den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn, die über den Anwendungsbereich der Verordnung hinausgehen, zu beheben;
E. in der Erwägung, dass Ungarn entschieden hat, sich nicht an der verstärkten Zusammenarbeit zur Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft zu beteiligen;
1. begrüßt die Entscheidung, im Falle Ungarns den in der Konditionalitätsverordnung vorgesehenen Mechanismus in Gang zu setzen, auch wenn diese Entscheidung sehr spät getroffen wurde und nicht weit genug geht;
2. vertritt die Auffassung, dass die 17 von der Kommission und der ungarischen Regierung ausgehandelten Maßnahmen nicht ausreichen, um dem bestehenden systemischen Risiko für die finanziellen Interessen der EU entgegenzuwirken;
3. fordert die Kommission auf, in ihrer Bewertung auf das anhaltende Risiko hinzuweisen und an der Notwendigkeit von Abhilfemaßnahmen festzuhalten, damit der Vorschlag der Kommission vom 18. September 2022 für einen Durchführungsbeschluss des Rates über Maßnahmen zum Schutz des Haushalts der Union vor Verstößen gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn vom Rat mit qualifizierter Mehrheit gebilligt werden kann;
4. fordert den Rat auf, die von der Kommission am 18. September 2022 vorgeschlagenen Maßnahmen auf der Grundlage der Konditionalitätsverordnung anzunehmen und die angenommenen Maßnahmen erst dann aufzuheben, wenn die Voraussetzungen für ihre Annahme nachweislich nicht mehr erfüllt sind, d. h. wenn sich die von der ungarischen Regierung ergriffenen Abhilfemaßnahmen nachhaltig in der Praxis niedergeschlagen haben und insbesondere keine Rückschritte bei bereits angenommenen Maßnahmen festgestellt wurden; betont, dass die Union im Fall einer künftigen Aufhebung dieser Maßnahmen Finanzkorrekturen vornehmen sollte;
5. fordert die Kommission auf, im Rahmen der Konditionalitätsverordnung Sofortmaßnahmen in Bezug auf andere Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit zu ergreifen, insbesondere im Zusammenhang mit der Unabhängigkeit der Justiz und sonstigen Aspekten, die in dem Schreiben der Kommission an Ungarn vom 19. November 2021 aufgeführt werden;
6. bedauert, dass die ungarische Regierung das Einstimmigkeitserfordernis in der EU immer wieder missbraucht, um wichtige Entscheidungen zu blockieren und die Kommission und den Rat zu drängen, EU-Mittel freizugeben, was zu Verzögerungen bei der Verabschiedung des Hilfspakets für die Ukraine in Höhe von 18 Mrd. EUR sowie bei der Umsetzung des weltweiten Mindeststeuersatzes für Unternehmen führt; fordert die Kommission und den Rat auf, dafür zu sorgen, dass dies keine Auswirkungen auf ihre Beschlüsse im Zusammenhand mit der Aufbau- und Resilienzfazilität und dem Rechtsstaatlichkeitsmechanismus hat;
7. bekräftigt seine Forderung an die Kommission, dafür zu sorgen, dass den Endempfängern oder Begünstigten von EU-Mitteln die betreffenden Mittel nicht vorenthalten werden, wenn im Rahmen des Rechtsstaatlichkeitsmechanismus Maßnahmen gemäß Artikel 5 Absätze 4 und 5 der Konditionalitätsverordnung ergriffen werden; fordert die Kommission auf, Wege zu finden, wie EU-Mittel über lokale Gebietskörperschaften und nichtstaatliche Organisationen verteilt werden können, wenn die jeweilige Regierung in Bezug auf Mängel auf dem Gebiet der Rechtsstaatlichkeit nicht kooperiert;
8. weist darauf hin, dass der Zweck der Aufbau- und Resilienzfazilität darin besteht, die Erholung und die Widerstandskraft der EU und ihrer Mitgliedstaaten, einschließlich Ungarns, zu unterstützen; bedauert, dass die Gelder aus der Aufbau- und Resilienzfazilität infolge des Gebarens der ungarischen Regierung noch nicht bei den Menschen, Regionen, Lokalregierungen und zivilgesellschaftlichen Organisationen in Ungarn angekommen sind, wohingegen die 26 anderen Aufbau- und Resilienzpläne genehmigt wurden; stellt fest, dass die Gefahr eines Missbrauchs von Mitteln aus der Aufbau- und Resilienzfazilität besteht, und fordert die Kommission erneut auf, den Plan Ungarns solange nicht positiv zu bewerten, bis das Land allen Empfehlungen im Bereich der Rechtsstaatlichkeit vollständig nachgekommen ist und alle einschlägigen Urteile des EuGH und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte umgesetzt hat; erwartet, dass die Kommission alle Risiken von Programmen im Rahmen der Kohäsionspolitik ausschließt, die zum Missbrauch von EU-Mitteln oder zu Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit beitragen, bevor sie Partnerschaftsabkommen und kohäsionspolitische Programme genehmigt;
9. bedauert, dass dem Parlament nicht genügend Informationen zur Verfügung gestellt wurden, was die Verhandlungen zwischen der Kommission und der ungarischen Regierung betrifft; erwartet, dass die Kommission das Parlament zeitnah und regelmäßig über alle einschlägigen Entwicklungen unterrichtet; weist darauf hin, wie wichtig Transparenz auch für die Unionsbürger ist, auch für die ungarischen Bürger, für die unglaublich viel auf dem Spiel steht;
10. beauftragt seine Präsidentin, diese Entschließung dem Rat und der Kommission und den Regierungen und Parlamenten der Mitgliedstaaten zu übermitteln.