Entschließung des Europäischen Parlaments vom 24. April 2024 zu der Delegierten Verordnung der Kommission vom 14. März 2024 zur Änderung der Verordnung (EU) 2015/2283 des Europäischen Parlaments und des Rates über neuartige Lebensmittel hinsichtlich der Begriffsbestimmung für „technisch hergestellte Nanomaterialien“ (C(2024)01612 – 2024/2691(DEA))
Das Europäische Parlament,
– unter Hinweis auf die Delegierte Verordnung der Kommission vom 14. März 2024 zur Änderung der Verordnung (EU) 2015/2283 des Europäischen Parlaments und des Rates über neuartige Lebensmittel hinsichtlich der Begriffsbestimmung für „technisch hergestellte Nanomaterialien“ (C(2024)01612),
– gestützt auf Artikel 290 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV),
– unter Hinweis auf die Verordnung (EU) 2015/2283 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2015 über neuartige Lebensmittel, zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1169/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 258/97 des Europäischen Parlaments und des Rates und der Verordnung (EG) Nr. 1852/2001 der Kommission(1), insbesondere auf Artikel 31 und Artikel 32 Absatz 6,
– unter Hinweis auf die Verordnung (EU) Nr. 1169/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2011 betreffend die Information der Verbraucher über Lebensmittel und zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 1924/2006 und (EG) Nr. 1925/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 87/250/EWG der Kommission, der Richtlinie 90/496/EWG des Rates, der Richtlinie 1999/10/EG der Kommission, der Richtlinie 2000/13/EG des Europäischen Parlaments und des Rates, der Richtlinien 2002/67/EG und 2008/5/EG der Kommission und der Verordnung (EG) Nr. 608/2004 der Kommission(2), insbesondere auf Artikel 18 Absatz 3,
– unter Hinweis auf die Verordnung (EG) Nr. 1333/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über Lebensmittelzusatzstoffe(3),
– unter Hinweis auf die Unionslisten, die im Rahmen der Verordnung (EU) Nr. 1129/2011 der Kommission vom 11. November 2011 zur Änderung des Anhangs II der Verordnung (EG) Nr. 1333/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates im Hinblick auf eine Liste der Lebensmittelzusatzstoffe der Europäischen Union(4) und der Verordnung (EU) Nr. 1130/2011 der Kommission vom 11. November 2011 zur Änderung des Anhangs III der Verordnung (EG) Nr. 1333/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates über Lebensmittelzusatzstoffe im Hinblick auf eine Liste der Europäischen Union der für die Verwendung in Lebensmittelzusatzstoffen, Lebensmittelenzymen, Lebensmittelaromen und Nährstoffen zugelassenen Lebensmittelzusatzstoffe(5) erstellt wurden,
– unter Hinweis auf die Verordnung (EU) Nr. 257/2010 der Kommission vom 25. März 2010 zur Aufstellung eines Programms zur Neubewertung zugelassener Lebensmittelzusatzstoffe gemäß der Verordnung (EG) Nr. 1333/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates über Lebensmittelzusatzstoffe(6),
– gestützt auf Artikel 111 Absatz 3 seiner Geschäftsordnung,
– unter Hinweis auf den Entschließungsantrag des Ausschusses für Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit,
A. in der Erwägung, dass gemäß Artikel 18 Absatz 3 der Verordnung (EU) Nr. 1169/2011 alle Lebensmittelzutaten, die in Form technisch hergestellter Nanomaterialien vorhanden sind, im Zutatenverzeichnis eindeutig aufgeführt werden müssen, um die Information der Verbraucher sicherzustellen; in der Erwägung, dass in der Verordnung (EU) Nr. 1169/2011 dementsprechend der Begriff „technisch hergestelltes Nanomaterial“ gemäß Artikel 3 Absatz 2 Buchstabe f der Verordnung (EU) 2015/2283 definiert wird;
B. in der Erwägung, dass der Kommission in Artikel 31 der Verordnung (EU) 2015/2283 die Befugnis übertragen wird, die Begriffsbestimmung für technisch hergestellte Nanomaterialien durch delegierte Rechtsakte an den technischen und wissenschaftlichen Fortschritt oder an auf internationaler Ebene vereinbarte Begriffsbestimmungen anzugleichen und anzupassen, damit die Ziele der genannten Verordnung erreicht werden;
C. in der Erwägung, dass im Rahmen der Verordnung (EU) Nr. 1129/2011 und der Verordnung (EU) Nr. 1130/2011 umfassende Unionslisten der Lebensmittelzusatzstoffe erstellt wurden, die zur Verwendung zugelassen waren, bevor die Verordnung (EG) Nr. 1333/2008 in Kraft trat, nachdem überprüft worden war, ob diese Stoffe den Bestimmungen jener Verordnung entsprechen;
Auswirkungen der Begriffsbestimmung
D. in der Erwägung, dass mit der Begriffsbestimmung für „technisch hergestellte Nanomaterialien“ in der Delegierten Verordnung der Kommission bestimmt wird, ob ein Lebensmittel im Zutatenverzeichnis als „Nano“ gekennzeichnet werden muss, wie in Artikel 18 Absatz 3 der Verordnung (EU) Nr. 1169/2011 dargelegt;
E. in der Erwägung, dass mit der Delegierten Verordnung der Kommission das Ziel verfolgt wird, Auslegungsprobleme, die sich aus der derzeitigen Begriffsbestimmung ergeben, anzugehen, indem objektive Elemente aufgenommen werden, anhand deren bestimmt werden kann, ob ein Nanomaterial „technisch hergestellt“ ist, z. B. indem die Formulierung „absichtlich hergestellt“ durch „hergestellt“ ersetzt wird;
F. in der Erwägung, dass in der Delegierten Verordnung der Kommission Partikel, die sich nicht in einem festen Zustand befinden, wie z. B. Mizellen, Liposome oder Nano-Tröpfchen in einer Emulsion, und Inhaltsstoffe, bei denen weniger als 50 % Partikel einer Größe von weniger als 100 nm enthalten sind, von der Einstufung als Nanomaterialien in Lebensmitteln ausgenommen werden;
G. in der Erwägung, dass der vorgeschlagene Standardschwellenwert von 50 % oder mehr Partikeln im Nanomaßstab willkürlich ist und ein geringeres Schutzniveau bietet als die von einigen Mitgliedstaaten, wie Frankreich, vorgenommene Auslegung der in der Verordnung (EU) 2015/2283 enthaltenen Begriffsbestimmung; in der Erwägung, dass in der genannten Verordnung kein Schwellenwert für die Größenverteilung bei Partikeln unter 100 nm vorgesehen ist;
H. in der Erwägung, dass mit der vorgeschlagenen Begriffsbestimmung möglicherweise zahlreiche Nanostoffe vom Anwendungsbereich der Verordnung (EU) Nr. 1169/2011 ausgenommen würden, sodass diese nicht der verpflichtenden Kennzeichnung als „Nano“ unterliegen würden; in der Erwägung, dass die Kommission in ihrer Begründung unter Punkt 3 darauf hinweist, dass die Anzahl der in Lebensmitteln verwendeten Materialien, die möglicherweise einen bestimmten Anteil an Nanopartikeln enthalten, begrenzt ist und dass die meisten, wenn nicht sogar alle dieser Materialien nicht neuartig sind, und dass die möglichen Auswirkungen des delegierten Rechtsakts daher nur eine sehr begrenzte Anzahl von Materialien betreffen werden;
I. in der Erwägung, dass derzeit gerade Lebensmittelzusatzstoffe als Nanomaterialien in Lebensmitteln enthalten sein können; in der Erwägung, dass die nationale Agentur Frankreichs für Gesundheit und Sicherheit (ANSES) 37 Nanostoffe ermittelt hat, die in mehr als 900 Lebensmitteln verwendet werden(7); in der Erwägung, dass durch die von Verbraucherorganisationen und regierungsunabhängigen Organisationen (Agir pour l’Environnement(8), Que Choisir(9), 60 Millions de consommateurs(10) und AVICENN(11) in Frankreich, Foodwatch(12) und BUND(13) in Deutschland, Test Achats(14) in Belgien, Altroconsumo(15) in Italien und OCU(16) in Spanien) durchgeführten Prüfungen wiederholt das Vorhandensein von Lebensmittelzusatzstoffen mit einem erheblichen Anteil an Nanopartikeln nachgewiesen wurde, wobei es sich beispielsweise um den Lebensmittelfarbstoff Eisenoxid (E 172) handelt, der in Milcherzeugnissen, Backwaren und einigen Frühstücksgetreideprodukten verwendet wird und Nanopartikel unterhalb des Schwellenwerts von 50 % enthalten kann; in der Erwägung, dass dies zeigt, dass das Fehlen einer angemessenen Kennzeichnung bestimmter Lebensmittelzutaten als „Nano“ in erster Linie auf eine mangelnde Durchsetzung der geltenden Rechtsvorschriften und weniger auf Schwierigkeiten bei der Auslegung zurückzuführen ist;
J. in der Erwägung, dass eine von der Europäischen Chemikalienagentur in Auftrag gegebene Studie aus dem Jahr 2020 gezeigt hat, dass die Bürgerinnen und Bürger eine bessere Kennzeichnung von Produkten des täglichen Bedarfs, die Nanomaterialien enthalten, fordern(17);
Widersprüche zu Empfehlungen und neuen wissenschaftlichen Fortschritten
K. in der Erwägung, dass das Europäische Parlament in seiner Entschließung vom 12. März 2014 zu der delegierten Verordnung der Kommission vom 12. Dezember 2013 zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1169/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend die Information der Verbraucher über Lebensmittel im Hinblick auf die Definition von „technisch hergestellten Nanomaterialien“(18) Einwände gegen eine sehr ähnliche Begriffsbestimmung mit dem gleichen Schwellenwert von 50 %, mit der alle Lebensmittelzusatzstoffe ausgeschlossen wurden, erhoben hat, da die Begriffsbestimmung seiner Auffassung nach „gegen das grundlegende Ziel der Richtlinie verstößt, für ein hohes Niveau des Schutzes der Gesundheit und der Interessen der Verbraucher zu sorgen, indem eine Grundlage geschaffen wird, auf der die Endverbraucher Entscheidungen in Kenntnis der Sachlage treffen können“; in der Erwägung, dass das Europäische Parlament die Kommission aufgefordert hat, einen neuen delegierten Rechtsakt vorzulegen, in dem seinem Standpunkt Rechnung getragen wird;
L. in der Erwägung, dass das Europäische Parlament in seiner Entschließung vom 8. Oktober 2020 zu dem Entwurf einer Verordnung der Kommission zur Änderung des Anhangs der Verordnung (EU) Nr. 231/2012 mit Spezifikationen für die in den Anhängen II und III der Verordnung (EG) Nr. 1333/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates aufgeführten Lebensmittelzusatzstoffe in Bezug auf die Spezifikationen für Titandioxid (E 171)(19) Einwände gegen den Entwurf einer Verordnung der Kommission erhoben hat, mit der Chargen von lebensmitteltauglichem Titandioxid (E 171), die weniger als 50 % Partikel mit einer Größe von weniger als 100 nm enthalten, zugelassen werden sollten;
M. in der Erwägung, dass die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit empfohlen hat(20), angesichts der derzeitigen Unsicherheiten in Bezug auf die Sicherheit anstelle der in der Empfehlung vorgeschlagenen 50 % einen niedrigeren Schwellenwert für den Anteil an Nanopartikeln, z. B. 10 %, für lebensmittelbezogene Anwendungen in Betracht zu ziehen;
N. in der Erwägung, dass sich Hochschuleinrichtungen, Behörden, regierungsunabhängige Verbraucher- und Umweltorganisationen und Gewerkschaften im Rahmen der Konsultation durch die Kommission für eine Begriffsbestimmung aussprachen, die alle Materialien einschließt, unabhängig davon, ob sie hergestellt werden, zufällig oder natürlich auftreten, sowie für einen Standardschwellenwert für Partikel von 10 % oder mehr in der Anzahlgrößenverteilung;
O. in der Erwägung, dass neue wissenschaftliche Fortschritte und Erkenntnisse seit 2014 bestätigt haben, dass Nanomaterialien physiologische Barrieren überwinden können und häufig gefährlicher sind als Stoffe in Mikro- oder Makrozuständen(21);
P. in der Erwägung, dass ANSES im April 2023 einen ausführlichen Bericht(22) veröffentlicht hat, in dem festgestellt wurde, dass die Definition von Nanomaterialien in der Empfehlung der Kommission vom 10. Juni 2022(23), die als Grundlage für die Überarbeitung der Begriffsbestimmung für „technisch hergestellte Nanomaterialien“ in der Verordnung (EU) 2015/2283 diente, in sektorspezifischen Rechtsvorschriften, insbesondere im Bereich Lebensmittel, die Prävention von Gesundheits- und Umweltrisiken beeinträchtigen würde; in der Erwägung, dass ANSES betonte, dass der Schwellenwert von 50 % für den Anteil von Nanopartikeln, der in der horizontalen Definition des Begriffs „Nano“ enthalten ist, nicht auf fundierten wissenschaftlichen Argumenten beruht, und empfahl, einen niedrigeren Schwellenwert festzulegen;
Q. in der Erwägung, dass es möglich ist, Nano-Lebensmittelzutaten auf der Grundlage eines Schwellenwerts von 10 % für den Anteil an Nanopartikeln zu ermitteln, da dies der Berücksichtigungsgrenzwert ist, den die französische Generaldirektion für Verbraucherfragen, Wettbewerb und Betrugsbekämpfung derzeit bei ihren Kontrolltätigkeiten anwendet(24);
Grundsatz der Vorsorge
R. in der Erwägung, dass in Artikel 191 Absatz 2 AEUV der Grundsatz der Vorsorge als einer der Grundsätze der Union festgelegt ist;
S. in der Erwägung, dass nach Maßgabe von Artikel 168 Absatz 1 AEUV bei der Festlegung und Durchführung aller Unionspolitiken und -maßnahmen ein hohes Gesundheitsschutzniveau sichergestellt werden muss;
1. erhebt Einwände gegen die Delegierte Verordnung der Kommission;
2. beauftragt seine Präsidentin, diese Entschließung der Kommission zu übermitteln und sie darauf hinzuweisen, dass die Delegierte Verordnung nicht in Kraft treten kann;
3. vertritt die Auffassung, dass die Delegierte Verordnung der Kommission nicht mit dem Ziel und dem Inhalt der Verordnung (EU) 2015/2283 im Einklang steht und dass sie die der Kommission in Artikel 31 jener Verordnung übertragenen Durchführungsbefugnisse überschreitet;
4. bedauert, dass mit dem vorgeschlagenen Schwellenwert von 50 % dem technischen und wissenschaftlichen Fortschritt nicht Rechnung getragen wird;
5. fordert die Kommission auf, den Grundsatz der Vorsorge anzuwenden, die Sicherheit und Information der Verbraucher sicherzustellen und dem Konzept „Eine Gesundheit“ Rechnung zu tragen;
6. beauftragt seine Präsidentin, diese Entschließung dem Rat sowie den Regierungen und Parlamenten der Mitgliedstaaten zu übermitteln.
Stellungnahme von ANSES (2023): Definition of nanomaterials: analysis, challenges and controversies (Definition von Nanomaterialien: Analyse, Herausforderungen und Kontroversen), https://www.anses.fr/en/system/files/AP2018SA0168RaEN.pdf.
ANSES (2020) : Nanomatériaux dans les produits destinés à l’alimentation. Rapport d’expertise collective (Nanomaterialien in Lebensmitteln. Bericht einer Sachverständigengruppe) , https://www.anses.fr/fr/system/files/ERCA2016SA0226Ra.pdf (S. 86).