Gebiete in äußerster Randlage
Die Europäische Union unterstützt die Entwicklung der abgelegensten Regionen, der sogenannten Gebiete in äußerster Randlage. Zu diesen Gebieten zählen Guadeloupe, Französisch-Guayana, Réunion, Martinique, Mayotte und Saint-Martin (Frankreich), die Azoren und Madeira (Portugal) sowie die Kanarischen Inseln (Spanien). Die mit ihrer außergewöhnlichen geografischen Lage verbundenen Nachteile sollen auf diese Art und Weise ausgeglichen werden.
Rechtsgrundlage
Artikel 349 und Artikel 355 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV).
Hintergrund
Einige Mitgliedstaaten der EU verfügen über Hoheitsgebiete, die weit entfernt von Europa liegen. Diese Regionen, die als „Gebiete in äußerster Randlage“ bekannt sind, sehen sich mit einer Reihe von Schwierigkeiten konfrontiert, die sich aus ihren jeweiligen geografischen Eigenschaften ergeben, insbesondere der Abgelegenheit, der Insellage, der geringen Größe sowie der schwierigen Relief- und Klimabedingungen. Wirtschaftlich sind die Gebiete von einigen wenigen Produkten (häufig von landwirtschaftlichen Erzeugnissen oder natürlichen Ressourcen) abhängig. Durch diese Merkmale wird das Potenzial für ihre künftige Entwicklung eingeschränkt.
Derzeit gibt es neun Gebiete in äußerster Randlage:
- fünf französische Überseedepartements: Martinique, Mayotte, Guadeloupe, Französisch-Guayana und Réunion,
- ein französisches Überseegebiet: Saint-Martin,
- zwei portugiesische autonome Regionen: Madeira und die Azoren
- sowie eine spanische autonome Gemeinschaft: die Kanarischen Inseln.
Es sollte darauf hingewiesen werden, dass die Gebiete in äußerster Randlage von den insgesamt 13 überseeischen Ländern und Gebieten der EU (ÜLG) zu unterscheiden sind. Es gibt 13 ÜLG, die verfassungsmäßig mit Dänemark, Frankreich bzw. den Niederlanden verbunden sind. Die überseeischen Länder und Gebiete sind nicht Teil des Binnenmarkts und müssen im Bereich des Handels den für Drittländer festgelegten Verpflichtungen nachkommen; dies gilt insbesondere für Ursprungsregeln, gesundheitspolizeiliche und pflanzenschutzrechtliche Normen und Schutzmaßnahmen. Gemäß Artikel 355 AEUV kann der Europäische Rat auf Initiative des betroffenen Mitgliedstaats den Status französischer, dänischer und niederländischer Länder und Gebiete (d. h. von Gebieten in äußerster Randlage und überseeischen Ländern und Gebieten) ändern, ohne dass der AEUV geändert werden muss. So war Saint-Barthélemy bis Ende 2011 eine EU-Region in äußerster Randlage, aber 2012 wurde sie zu einem ÜLG. Genau das Gegenteil war 2014 für Mayotte der Fall, das ein ÜLG war und nach einem Beschluss des Rates der Europäischen Union zu einem Gebiet in äußerster Randlage geworden ist.
Etwa fünf Millionen Menschen leben in den Gebieten in äußerster Randlage, von denen einige aufgrund der Zuwanderung ein erhebliches Bevölkerungswachstum verzeichnen. Das natürliche Bevölkerungswachstum ist ebenfalls relativ hoch, da die Bevölkerung in den meisten dieser Regionen viel jünger ist als auf dem Festland der EU. Im Jahr 2020 lag die Beschäftigungsquote in allen Gebieten in äußerster Randlage unter dem EU-Durchschnitt und reichte von 43 % in Mayotte bis 71 % auf den Azoren. Nur letztere wiesen eine Arbeitslosenquote unter dem EU-Durchschnitt (6,1 %) auf, während sie auf den Kanarischen Inseln und Mayotte mehr als dreimal so hoch war wie der Durchschnitt. Trotz hoher Arbeitslosenquoten sind die Kanarischen Inseln das einzige Gebiet in äußerster Randlage, in dem der Anteil der 25- bis 64-Jährigen mit Hochschulabschluss über dem EU-Durchschnitt liegt (34,4 % im Jahr 2020).
Tabelle: Angaben zu den Gebieten in äußerster Randlage
Entfernung zur Landeshauptstadt (km) | Gebiet (km2) | Bevölkerung (*) | Pro-Kopf-BIP als Prozentsatz des EU-Durchschnitts (EU = 100) (**) | |
---|---|---|---|---|
EU-27 | – | 4 225 127 | 446 828 803 | 100 |
Frankreich | – | 638 475 | 67 842 582 | 104 |
Portugal | – | 92 227 | 10 352 042 | 76 |
Spanien | – | 505 983 | 47 432 805 | 83 |
Azoren | 1 548 | 2 322 | 236 488 | 67 |
Kanarische Inseln | 1 850 (Durchschnitt für alle Inseln) |
7 447 | 2 252 237 | 62 |
Guadeloupe | 7 578 | 1 685 | 407 810 | 69 |
Französisch-Guayana | 7 841 | 83 751 | 296 058 | 46 |
Madeira | 1 041 | 802 | 251 182 | 69 |
Martinique | 7 641 | 1 108 | 352 205 | 76 |
Réunion | 9 921 | 2 504 | 869 993 | 68 |
Saint-Martin (***) | 6 700 | 86 (53 für die französische Seite) | 32 358 | – |
Mayotte | 8 444 | 367 | 299 022 | 30 |
(*) Vorläufige Daten für 2022, Quelle: Eurostat. (**) Quelle: Eurostat Jahrbuch der Regionen 2023 (***) Daten für 2020, Quelle: Institut national de la statistique et des études économiques, (französisches nationales Institut für Statistik und Wirtschaftsstudien) und Ministère des Outre-Mer (französisches Ministerium für Überseegebiete); es sind keine aktuellen Informationen über das BIP verfügbar. |
Trotz der großen Entfernung, die sie vom europäischen Kontinent trennt, sind die Gebiete in äußerster Randlage fester Bestandteil der Europäischen Union, und die Rechtsvorschriften und Übereinkommen der EU kommen in ihren Gebieten uneingeschränkt zur Anwendung. Allerdings mussten Teile der EU-Politik aufgrund der besonderen geografischen Lage dieser Gebiete und der damit verbundenen Schwierigkeiten an ihre besondere Situation angepasst werden.
Die entsprechenden Maßnahmen betreffen insbesondere Bereiche wie die Zoll- und Handelspolitik, die Steuerpolitik, Freihandelszonen, die Agrar- und Fischereipolitik sowie Auflagen für die Versorgung mit Rohstoffen und grundlegenden Verbrauchsgütern. Außerdem können die Regelungen über staatliche Beihilfen sowie die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Strukturfonds und der horizontalen Programme der EU an die Bedürfnisse der Gebiete angepasst werden (z. B. durch Sonderzuweisungen aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) für Gebiete in äußerster Randlage).
Neben den Sonderzuweisungen aus dem EFRE ziehen die Gebiete in äußerster Randlage ferner im Bereich der Landwirtschaft einen Nutzen aus den Programmen zur Lösung der spezifisch auf Abgelegenheit und Insellage zurückzuführenden Probleme (POSEI), die aus dem Europäischen Garantiefonds für die Landwirtschaft finanziert werden. Der Schwerpunkt des Programms liegt auf zwei Arten von Maßnahmen, nämlich
- auf besonderen Versorgungsregelungen, die darauf abzielen, die zusätzlichen Versorgungskosten in Verbindung mit für den Verzehr, die Verarbeitung oder den Einsatz als landwirtschaftliche Betriebsmittel dringend benötigten Produkten zu mindern, und
- auf Maßnahmen zur Unterstützung der landwirtschaftlichen Erzeugung vor Ort.
Die Europäische Union unterstützt die Gebiete in äußerster Randlage weiterhin durch ausgewählte spezifische Bestimmungen. Für den Zeitraum von 2021 bis 2027 werden den Gebieten in äußerster Randlage zusätzliche Mittel in Höhe von 1 928 Mio. EUR aus dem EFRE zugewiesen. Mit der europäischen territorialen Zusammenarbeit wird auch ein neues Ziel (Aktionsbereich) mit der Bezeichnung „Zusammenarbeit der Gebiete in äußerster Randlage“ (Interreg D) verfolgt, das die Integration der Regionen in äußerster Randlage und eine harmonische Entwicklung in ihren Regionen erleichtern soll. Für diesen Aktionsbereich stehen 281 Mio. EUR zur Verfügung. Hinzu kommt, dass der maximale Kofinanzierungssatz für die Regionen in äußerster Randlage auf höchstens 85 % festgesetzt wird, während der übliche Kofinanzierungssatz für Interreg-Programme bei 80 % liegt.
Europäische Strategie für die Gebiete in äußerster Randlage
Im Oktober 2017 veröffentlichte die Europäische Kommission eine Mitteilung mit dem Titel „Eine verstärkte und erneuerte Partnerschaft mit den Gebieten in äußerster Randlage der EU“. In dieser Strategie wird ein neuer Ansatz vorgeschlagen, um jeweils den besonderen Bedürfnissen jeder der neun Gebiete in äußerster Randlage der EU besser gerecht zu werden. Dies hat ihnen geholfen, ihren Einwohnern neue Chancen zu eröffnen, die Wettbewerbsfähigkeit und Innovation in Bereichen wie Landwirtschaft, Fischerei oder Tourismus zu fördern und die Zusammenarbeit mit Nachbarländern zu verbessern.
Am 3. Mai 2022 nahm die Kommission eine erneuerte Strategie für die Gebiete in äußerster Randlage an, um durch geeignete Investitionen und Reformen das Potenzial dieser Gebiete zu erschließen. Diese baut auf einer öffentlichen Konsultation sowie gezielten Konsultationen und bilateralen Treffen mit den Mitgliedstaaten auf und stützt sich auch auf Beiträge des Parlaments, des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses und der Gebiete in äußerster Randlage selbst. Auf der Grundlage von fünf zentralen Säulen enthält die Strategie Vorschläge für eine Reihe von Bereichen, darunter Sozialpolitik, Gesundheit, staatliche Beihilfen, Energie und Verwaltungskapazitäten.
Rolle des Europäischen Parlaments
Obgleich der Europäische Rat darüber beschließt, welche Regionen den Status eines Gebiets in äußerster Randlage erhalten, kommt dem Europäischen Parlament bei der Unterstützung dieser Gebiete eine außerordentlich aktive Rolle zu.
Bei Rechtsvorschriften zu den wichtigsten EU-Politikbereichen wie etwa zu der Regional-, Agrar-, Fischerei- und Bildungspolitik hat das Europäische Parlament die gleichen Befugnisse wie der Rat der Europäischen Union. Bei seiner Arbeit berücksichtigt das Europäische Parlament die besondere Situation der Gebiete in äußerster Randlage und unterstützt Initiativen, die auf die Förderung ihrer Entwicklung abzielen.
Während der Verhandlungen über den Regulierungsrahmen unterstützte das Europäische Parlament den Grundsatz, dass die Gebiete in äußerster Randlage eine andere Behandlung erfahren sollten, wenn es um Kofinanzierungssätze, spezifische EFRE-Bestimmungen über produktive Investitionen in Unternehmen und spezifische Bestimmungen im Zusammenhang mit Interreg-Programmen geht. Darüber hinaus verabschiedete das Europäische Parlament 2014 eine Entschließung zur Optimierung der Entwicklung der Potenziale der Regionen in äußerster Randlage durch die Schaffung von Synergien zwischen den Strukturfonds und anderen Programmen der Europäischen Union. In dieser Entschließung erinnert das Parlament an die besonderen Merkmale der Gebiete in äußerster Randlage und betont, dass zwischen der aus den Strukturfonds bereitgestellten Unterstützung für diese Gebiete und den EU-Programmen wie Horizont 2020[1], LIFE+[2] und COSME[3] Synergien geschaffen werden müssen.
Im Jahr 2017 verabschiedete das Europäische Parlament eine Entschließung zur Förderung von Kohäsion und Entwicklung in den Gebieten in äußerster Randlage der EU. Bei ihr geht es schwerpunktmäßig um die Umsetzung von Artikel 349 AEUV und Bereiche wie die Handels-, Meeres- und Kohäsionspolitik der EU, Fischerei und blaues Wachstum sowie Umwelt und Energie.
Am 14. September 2021 nahm das Europäische Parlament eine Entschließung mit dem Titel „Eine stärkere Partnerschaft mit den EU-Gebieten in äußerster Randlage“ an. In dem Bericht wird auf die zahlreichen Fortschritte hingewiesen, die im Rahmen des mehrjährigen Finanzrahmens 2021-2027 erzielt wurden, und es wird betont, wie wichtig es ist, die Regelungen für die Gebiete in äußerster Randlage auf der Grundlage von Artikel 349 AEUV beizubehalten und die doppelte Herausforderung des Schutzes ihrer lokalen Erzeugung und der Bewältigung der hohen Lebenshaltungskosten miteinander in Einklang zu bringen.
Am 7. Juni 2022 nahm das Europäische Parlament eine Entschließung zu den Inseln der Europäischen Union und Kohäsionspolitik: aktuelle Situation und zukünftige Herausforderungen an. In der Entschließung wird bedauert, dass die EU keine Vision für die europäischen Inseln hat, und es wird eine Reihe von Maßnahmen gefordert, um die Unterschiede zwischen den Gebieten in äußerster Randlage und den am weitesten entwickelten Regionen anzugehen, wobei der Schwerpunkt auf der Landwirtschaft und der blauen Wirtschaft liegen sollte.
Am 13. Juni 2023 nahm das Parlament eine Entschließung zur Bewertung der neuen Mitteilung der Kommission zu den Gebieten in äußerster Randlage an. In der Entschließung werden eine bessere Anwendung von Artikel 349 AEUV und Maßnahmen unter anderem zugunsten der Fähigkeiten und Fertigkeiten des Menschen, der blauen Wirtschaft, des Klimas, des digitalen Wandels und des Weltraums gefordert.
Frédéric Gouardères