Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik
Die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) ist integraler Bestandteil der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Union (GASP). Die GSVP ist der wichtigste politische Rahmen, über den die Mitgliedstaaten eine europäische strategische Sicherheits- und Verteidigungskultur entwickeln, Konflikte und Krisen gemeinsam angehen, die Union und ihre Bürgerinnen und Bürger schützen und den Weltfrieden und die internationale Sicherheit stärken können. Aufgrund des angespannten geopolitischen Kontexts gehörte die GSVP in den letzten zehn Jahren zu den sich am schnellsten entwickelnden Politikbereichen. Der am 24. Februar 2022 begonnene russische Angriffskrieg gegen die Ukraine bedeutet einen geopolitischen Rückschlag für Europa, durch den neue Impulse für die Gründung einer EU-Verteidigungsunion gegeben wurden.
Rechtsgrundlage
Die GSVP wird im Vertrag von Lissabon, auch bekannt als Vertrag über die Europäische Union (EUV), beschrieben, der 2009 in Kraft trat.
Im Einzelnen wird die Arbeitsweise der GSVP unter Titel V (Allgemeine Bestimmungen über das auswärtige Handeln der Union), Kapitel 2 (Besondere Bestimmungen über die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik), Abschnitt 2 (Bestimmungen über die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik) des Vertrags von Lissabon dargelegt. Abschnitt 2 umfasst fünf Artikel, nämlich Artikel 42 bis 46.
Die Rolle des Europäischen Parlaments im Hinblick auf die GASP und die GSVP wird unter Titel V, Kapitel 2, Abschnitt 1 (Gemeinsame Bestimmungen) und in Artikel 36 festgelegt und die Finanzierungsregelungen für beide Strategien sind in Artikel 41 enthalten.
Die GSVP wird zusätzlich in den Änderungsanträgen zum Vertrag von Lissabon näher beschrieben, hauptsächlich in Protokoll Nr. 1 (über die Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union), Protokoll Nr. 10 (über die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit nach Artikel 42 des Vertrags über die Europäische Union) und Protokoll Nr. 11 (Protokoll zu Artikel 42 des Vertrags über die Europäische Union) sowie den Erklärungen Nr. 13 (Erklärung zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik) und Nr. 14 (Erklärung zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik).
Organisation
Dem Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, der auch als Vizepräsident der Europäischen Kommission (HR/VP) fungiert, kommt die zentrale institutionelle Rolle zu. Seit Dezember 2019 hat Josep Borrell das Amt des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik und des Vizepräsidenten der Europäischen Kommission inne. Er führt den Vorsitz im Rat „Auswärtige Angelegenheiten“ in der Besetzung mit den Verteidigungsministern, der das beschlussfassende Organ der EU für die GSVP ist. Ihm obliegt es, den Mitgliedstaaten Vorschläge in Bereichen der GSVP vorzustellen. Der HR/VP leitet den Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD) und die Europäische Verteidigungsagentur (EDA).
Die Beschlüsse zur GSVP werden vom Europäischen Rat und vom Rat der Europäischen Union einstimmig gefasst (Artikel 42 EUV). Nur in einigen wichtigen Ausnahmefällen, die die EDA (Artikel 45 EUV) und die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (SSZ, Artikel 46 EUV) betreffen, wird mit qualifizierter Mehrheit entschieden.
Mit dem Vertrag von Lissabon wurde eine europäische Politik im Bereich der Fähigkeiten und der Rüstung eingeführt (Artikel 42 Absatz 3 EUV) und festgelegt, dass die EDA „ihre Aufgaben erforderlichenfalls in Verbindung mit der Kommission“ versieht (Artikel 45 Absatz 2 EUV), vor allem in Bezug auf die Politik der EU in den Bereichen Forschung, Industrie und Raumfahrt.
Darüber hinaus wird in Artikel 21 EUV darauf hingewiesen, dass der Multilateralismus im Mittelpunkt des auswärtigen Handelns der EU steht. Dementsprechend können sich auch EU-Partner an den GSVP-Missionen und -Operationen beteiligen. Die EU setzt sich für verschiedene Rahmen einer vertieften Abstimmung und Zusammenarbeit ein, insbesondere mit den Vereinten Nationen und der Nordatlantikvertrags-Organisation (NATO), aber auch mit anderen regionalen Organisationen, wie der Afrikanischen Union.
Entwicklung
Seit der Unterzeichnung des Vertrags von Lissabon hat sich die GSVP erheblich weiterentwickelt, sowohl politisch als auch institutionell.
Im Juni 2016 legte die damalige HR/VP Federica Mogherini dem Europäischen Rat eine „Globale Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union“ vor, in der die Strategie für die GSVP dargelegt wird. Mit der Strategie werden fünf Prioritäten festgelegt: die Sicherheit der Europäischen Union, die Widerstandsfähigkeit von Staaten und Gesellschaften in der östlichen und südlichen Nachbarschaft der EU, ein integrierter Ansatz zur Bewältigung von Konflikten, auf Zusammenarbeit beruhende regionale Ordnungen, und eine globale Ordnungspolitik für das 21. Jahrhundert. Die Umsetzung der Globalen Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union sollte jährlich in Abstimmung mit dem Rat, der Kommission und dem Parlament überprüft werden.
Im November 2016 legte die HR/VP Federica Mogherini dem Rat außerdem einen „Umsetzungsplan für Sicherheit und Verteidigung“ vor, mit dem die in der Strategie festgelegte Vision operationalisiert werden sollte. Der Plan enthält 13 Vorschläge, darunter eine Koordinierte Jährliche Überprüfung der Verteidigung (Coordinated Annual Review on Defence, CARD) und eine neue einheitliche Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (SSZ) für die Mitgliedstaaten, die bereit sind, weitere Verpflichtungen im Bereich Sicherheit und Verteidigung einzugehen.
Gleichzeitig legte Federica Mogherini den Mitgliedstaaten einen Europäischen Aktionsplan im Verteidigungsbereich (European Defence Action Plan, EDAP) vor, der wichtige Vorschläge im Hinblick auf einen Europäischen Verteidigungsfonds (EVF) mit dem Schwerpunkt auf der Verteidigungsforschung und dem Kapazitätenaufbau umfasste. Diese Pläne wurden in den letzten Jahren umgesetzt.
Die EU stieß im Juni 2021 einen Reflexionsprozess hinsichtlich der künftigen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Union an. Das Ergebnis dieses Prozesses ist ein politisches Dokument zum Strategischen Kompass, mit dem die Sicherheits- und Verteidigungsstrategien der EU für die nächsten fünf bis zehn Jahre festgelegt werden. Mit dem Strategischen Kompass wird ein Aktionsrahmen für die Entwicklung einer gemeinsamen Vision im Bereich der Sicherheit und der Verteidigung geschaffen. Das Dokument wurde in drei Etappen erarbeitet: Zunächst wurde eine Bedrohungsanalyse vorgenommen, der ein strukturierter strategischer Dialog und zuletzt weitere Entwicklungsarbeiten und Überarbeitungen vor der Annahme folgten. Der HR/VP Josep Borrell stellte den ursprünglichen Entwurf des Dokuments im November 2021 während einer gemeinsamen Sitzung der Außen- und Verteidigungsministerinnen und -minister der EU vor.
Vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, der am 24. Februar 2022 begonnen hat, mussten umfassende Änderungen an dem Dokument vorgenommen werden, um der Destabilisierung der europäischen Sicherheitsordnung und den sich daraus ergebenden Änderungen an der Position, den Zielen und den Instrumenten der EU Rechnung zu tragen. Mit der dritten Überarbeitung des Strategischen Kompasses wurden auch die Beiträge der Kommission zur Europäischen Verteidigung (Mitteilung vom 15. Februar 2022) aufgenommen, während die vierte Überarbeitung der Erklärung von Versailles (10.-11. März 2022) Rechnung trug. Auf der Tagung des Europäischen Rates vom 24.-25. März 2022 während des französischen Vorsitzes im Rat der Europäischen Union wurde die endgültige Version des Strategischen Kompasses gebilligt. Hauptziel des Strategischen Kompasses ist es, politische Handlungsempfehlungen für die Umsetzung der strategischen Autonomie in vier Bereichen zur Verfügung zu stellen: Krisenbewältigung, Resilienz, Kapazitäten und Partnerschaften. Mit diesem Prozess soll der immer dringlicheren Notwendigkeit Rechnung getragen werden, dass die EU für Sicherheit sorgen kann.
Missionen und Einsätze der Krisenbewältigung sind der sichtbarste und greifbarste Ausdruck der GSVP. Mit dem Strategischen Kompass werden die Lücken der Globalen Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union in Bezug auf Krisenbewältigungsinstrumente und -institutionen geschlossen, zum Beispiel durch die Schaffung einer neuen EU-Schnelleingreifkapazität. Im Jahresbericht 2021 über die Umsetzung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik sprach das Parlament seine Unterstützung für die vorgeschlagene „schnelle Eingreiftruppe“ aus. Ebenso gehört es zu den Zielen des Strategischen Kompasses, einheitliche Ziele für andere Initiativen und einschlägige Prozesse (darunter SSZ, EVF und CARD) festzulegen.
Das Europäische Parlament hat zwar keine direkte Rolle bei der Gestaltung des Strategischen Kompasses gespielt, muss jedoch regelmäßig bezüglich des Fortschritts der Umsetzung informiert werden und die Gelegenheit haben, sich zu dem Prozess zu äußern, insbesondere im Rahmen von Briefings für den Unterausschuss für Sicherheit und Verteidigung (SEDE). Da der SEDE-Unterausschuss jährlich eigene Berichte zur GSVP erstellt, nimmt er de facto eine beratende Funktion für die GSVP wahr.
Das GSVP-Instrumentarium
Seit 2016 konnten dank der GSVP eine Reihe von Erfolgen verzeichnet werden, darunter die Einführung der SSZ, eine ständige Befehls- und Führungsstruktur für die Planung und Durchführung militärischer Missionen ohne Exekutivbefugnisse, der EVF, der Pakt für die zivile GSVP, eine strategische Überprüfung der zivilen Dimension der GSVP und eine außerbudgetäre Europäische Friedensfazilität.
Der erste CARD-Bericht wurde den Verteidigungsministerinnen und -ministern der EU im November 2020 vorgelegt, wobei die Europäische Verteidigungsagentur (European Defence Agency, EDA) federführend war. In dem Bericht wurden 55 Kooperationsmöglichkeiten für das gesamte Spektrum der Fähigkeiten ermittelt.
Im Dezember 2020 erzielte der Rat im Rahmen des mehrjährigen Finanzrahmens (MFR) für den Zeitraum 2021-2027 mit den Vertretern des Parlaments eine vorläufige politische Einigung über eine Verordnung zur Errichtung des Europäischen Verteidigungsfonds. Die für die sieben Jahre zugewiesenen Haushaltsmittel belaufen sich auf 8 Mrd. EUR.
Mit der Europäischen Friedensfazilität wird die EU die gemeinsamen Kosten der militärischen GSVP-Missionen und -Einsätze finanzieren und so die Lastenteilung zwischen den Mitgliedstaaten stärken. Durch die Stärkung der Kapazitäten friedensunterstützender Einsätze sowie von Drittländern und Partnerorganisationen in militärischen und verteidigungspolitischen Angelegenheiten wird die EU die Wirksamkeit ihres auswärtigen Handelns erhöhen. Seit August 2022 hat die EU der Ukraine im Rahmen der Europäischen Friedensfazilität militärische Unterstützung in Höhe von rund 2,5 Mrd. EUR zur Verfügung gestellt, um sie bei der Abwehr der russischen Invasion zu unterstützen.
Missionen und Operationen der GSVP
Seit 2003 und den ersten Maßnahmen in den westlichen Balkanstaaten hat die EU 37 Einsätze und Missionen auf drei Kontinenten gestartet und durchgeführt. Seit März 2022 laufen 18 Missionen und Operationen der GSVP, davon elf zivile Missionen und sieben militärische Operationen, einschließlich zweier Operationen im Bereich See. Derzeit sind etwa 4 000 Militärangehörige und zivile Mitarbeiter der EU im Auslandseinsatz. Durch die jüngsten Missionen und Einsätze wurden die Sicherheit in der Zentralafrikanischen Republik (EUAM RCA) gefördert, das Waffenembargo der Vereinten Nationen gegen Libyen (EUNAVFOR MED IRINI) durchgesetzt und die Region Cabo Delgado (EUTM Mozambik) stabilisiert. Beschlüsse der EU über die Entsendung von Missionen oder Einsätzen werden in der Regel auf Ersuchen des Partnerlandes bzw. auf der Grundlage einer Resolution des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen gefasst.
Rolle des Europäischen Parlaments
Das Europäische Parlament unterstützt die Integration und Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich auf EU-Ebene. Das Parlament kontrolliert die GSVP und richtet auf eigene Initiative Anfragen dazu an den oder die VP/HR und den Rat (Artikel 36 EUV). Darüber hinaus hat es ein Kontrollrecht im Hinblick auf die Mittel für die GSVP (Artikel 41 EUV). Das Parlament berät zweimal pro Jahr über den Fortschritt der Umsetzung der GASP und der GSVP und nimmt Berichte an: einen über die GASP, der vom Unterausschuss für auswärtige Angelegenheiten (AFET) verfasst wird, und einen über die GSVP, der vom SEDE-Unterausschuss verfasst wird.
Der Jahresbericht 2021 über die Umsetzung der GSVP wurde im Februar 2022 im Plenum angenommen. Schwerpunkte des Berichts sind die Entwicklung der Sicherheits- und Verteidigungsdoktrin der EU durch den Strategischen Kompass, die GSVP-Missionen und -Operationen, die Krisenbewältigung, die Resilienz, Fähigkeiten, Partnerschaften und die parlamentarische Kontrolle der GSVP. Tatsächlich wird in dem jährlichen Bericht betont, dass das Parlament regelmäßig über die Planung, Änderung und Bewertung von GSVP-Missionen und -Operationen sowie über die SSZ informiert und konsultiert werden muss. In dem Bericht wird die Entschlossenheit des Parlaments hervorgehoben, „seine Kontrollfunktion im Rahmen des Instruments Global Europe – insbesondere dessen Dimension Frieden und Sicherheit – sowie bei der Durchführung des Europäischen Verteidigungsfonds in vollem Umfang wahrzunehmen“. In dem Bericht ist außerdem die Erwartung festgehalten, dass das Parlament und der SEDE-Unterausschuss regelmäßig über den Fortschritt der Umsetzung des Strategischen Kompasses informiert werden. Die im Strategischen Kompass enthaltene Bedrohungsanalyse sollte auch mit parlamentarischen Konsultationen verknüpft werden. Darüber hinaus wird in dem Bericht eine „regelmäßige [...] und transparente Bewertung“ aller GSVP-Missionen und -Operationen gefordert. Im Einklang mit der Rolle des Parlaments als Säule der Demokratie in der EU ist im jährlichen Bericht vermerkt, dass das Parlament wünscht, dass der Beitrag der breiten Öffentlichkeit zur GSVP im Rahmen der Konferenz zur Zukunft Europas berücksichtigt wird und die Beiträge der Bürgerinnen und Bürger in „Vorschläge und Maßnahmen“ umgesetzt werden. Um den parlamentarischen Aspekt der europäischen Verteidigung zu stärken, wird in dem jährlichen Bericht die Einrichtung eines Sicherheits- und Verteidigungsausschusses im Parlament und eines Rates der Verteidigungsminister der EU unterstützt.
Seit 2012 veranstalten das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten auf der Grundlage von Protokoll Nr. 1 des Vertrags von Lissabon zwei interparlamentarische Konferenzen pro Jahr, um über Aspekte im Zusammenhang mit der GASP zu beraten.
Allgemein wird es dem Parlament durch den Vertrag von Lissabon ermöglicht, eine umfassende Rolle bei der Entwicklung der GSVP zu spielen, wodurch das Parlament zu einem Partner bei der Gestaltung der Außenbeziehungen der EU und der Bewältigung von Sicherheitsherausforderungen wird. Gemäß seiner Rolle hält das Parlament regelmäßig Beratungen, Anhörungen und Workshops unter anderem zu folgenden Themen ab: zivile und militärische GSVP-Einsätze, internationale Krisen mit Auswirkungen auf Sicherheit und Verteidigung, multilaterale Rahmenwerke für Sicherheit, Rüstungskontrolle und Angelegenheiten in Bezug auf die Nichtverbreitung von Kernwaffen, Terrorismusbekämpfung und Bekämpfung von organisiertem Verbrechen, bewährte Vorgehensweisen zur Verbesserung der Wirksamkeit von Sicherheit und Verteidigung sowie rechtliche und institutionelle Entwicklungen der EU in diesen Bereichen.
Seit der Erklärung der damaligen HR/VP Catherine Ashton zur politischen Rechenschaftspflicht von 2010 nimmt das Parlament an regelmäßigen gemeinsamen Konsultationssitzungen teil, um Informationen mit dem Rat, dem EAD und der Kommission auszutauschen.
Das Parlament stellt auch Fragen und unterbreitet dem EAD mündliche Vorschläge zur GSVP, und zwar insbesondere in den Sitzungen des SEDE-Unterausschusses.
Jérôme Legrand