Niederlassungsfreiheit und freier Dienstleistungsverkehr
Niederlassungsfreiheit und Dienstleistungsfreiheit stellen die Mobilität von Unternehmen und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern innerhalb der EU sicher. Die Erwartungen an die vollständige Umsetzung der 2006 angenommenen Dienstleistungsrichtlinie sind hoch, da der (uneingeschränkte) freie Dienstleistungsverkehr von entscheidender Bedeutung für die Vollendung des Binnenmarkts ist. Dennoch gibt es nach wie vor Hindernisse für diese Freiheiten, und durch die Corona-Pandemie sind neue Herausforderungen hinzugekommen. In einer Entschließung des Parlaments zu der Beseitigung von nichttarifären und nichtsteuerlichen Handelshemmnissen im Binnenmarkt, die im Februar 2022 im Plenum angenommen wurde, wird dargelegt, wie die wirtschaftliche Erholung nach der Corona-Pandemie erfolgen sollte, um die negativen Auswirkungen auf die Niederlassungsfreiheit und die Dienstleistungsfreiheit am wirksamsten abzufedern.
Rechtsgrundlage
Artikel 26 (Binnenmarkt), 49 bis 55 (Niederlassung) sowie 56 bis 62 (Dienstleistungen) des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV).
Ziele
Selbstständig Erwerbstätige und Fachkräfte oder juristische Personen im Sinne von Artikel 54 AEUV, die in einem Mitgliedstaat rechtmäßig eine Tätigkeit ausüben i) können ihre Wirtschaftstätigkeit in einem anderen Mitgliedsstaat stetig und dauerhaft ausführen (Niederlassungsfreiheit: Artikel 49 AEUV), oder ii) ihre Dienstleistungen vorübergehend in anderen Mitgliedstaaten anbieten und erbringen, aber weiter im Herkunftsland ansässig bleiben (Dienstleistungsfreiheit: Artikel 56 AEUV). Dies setzt nicht nur die Abschaffung jeglicher Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit voraus, sondern auch die Annahme von Maßnahmen zur Erleichterung der Ausübung dieser Freiheiten, etwa die Harmonisierung der nationalen Vorschriften über den Zugang zu diesen Tätigkeiten oder deren gegenseitige Anerkennung, damit diese Freiheiten tatsächlich in Anspruch genommen werden können (2.1.6).
Errungenschaften
A. Liberalisierungsregelung im Vertrag
1. „Grundfreiheiten“
Das Niederlassungsrecht umfasst das Recht, in einem anderen Mitgliedstaat nach den gleichen Bestimmungen, die dieser für seine eigenen Staatsangehörigen festgelegt hat, selbstständige Erwerbstätigkeiten aufzunehmen und auszuüben sowie Unternehmen zu gründen und zu leiten.
Die Dienstleistungsfreiheit bezieht sich auf alle Leistungen, die in der Regel gegen Entgelt erbracht werden, soweit sie nicht den Vorschriften über den freien Waren- und Kapitalverkehr und über die Freizügigkeit der Personen unterliegen. Die Dienstleistungen erbringende Person kann zur Erbringung ihrer Leistungen ihre Tätigkeit vorübergehend in dem Mitgliedstaat ausüben, in dem die Leistung erbracht wird, und zwar unter den Voraussetzungen, welche dieser Mitgliedstaat für seine eigenen Angehörigen vorschreibt.
2. Ausnahmen
Nach dem AEUV sind Tätigkeiten, die mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind, von der Niederlassungsfreiheit und dem freien Dienstleistungsverkehr ausgeschlossen (Artikel 51 AEUV). Dieser Ausschluss wird allerdings durch eine restriktive Auslegung begrenzt: Ausschlüsse können sich nur auf diejenigen Tätigkeiten und Funktionen beziehen, die die Ausübung öffentlicher Gewalt beinhalten. Zudem kann ein ganzer Berufszweig nur dann ausgeschlossen werden, wenn alle Tätigkeiten dieses Berufs der Ausübung öffentlicher Gewalt gewidmet sind bzw. wenn der Teil, der mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden ist, von den übrigen Teilen nicht getrennt werden kann. Ausnahmeregelungen gestatten den Mitgliedstaaten, die Erzeugung von Kriegsmaterial oder den Handel damit (Artikel 346 Absatz 1 Buchstabe b AEUV) auszuschließen und aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit (Artikel 52 Absatz 1) eigene Regelungen für Ausländer beizubehalten.
B. Dienstleistungsrichtlinie – Vollendung des Binnenmarkts
Mit der Dienstleistungsrichtlinie (Richtlinie 2006/123/EG) wurde die Dienstleistungsfreiheit innerhalb der EU erweitert. Ihre Umsetzungsfrist wurde auf den 28. Dezember 2009 festgesetzt. Diese Richtlinie spielt aufgrund ihrer umfangreichen potenziellen Vorteile für Verbraucherinnen und Verbraucher und KMU eine maßgebliche Rolle bei der Vollendung des Binnenmarkts. Mit ihr soll ein offener EU-Binnenmarkt für Dienstleistungen geschaffen und zugleich die Qualität der Dienstleistungen für die Verbraucherinnen und Verbraucher sichergestellt werden. Nach der Mitteilung der Kommission mit dem Titel „Europa 2020 – eine Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum“ könnten durch die vollständige Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie der Handel mit privaten Dienstleistungen um 45% und ausländische Direktinvestitionen um 25% gesteigert werden, was eine Zunahme des BIP um 0,5% bis 1,5% zur Folge hätte. Die Richtlinie trägt zur Vereinfachung und Modernisierung des administrativen und ordnungspolitischen Rahmens bei. Dies wird nicht nur durch die Überprüfung der bestehenden Rechtsvorschriften und die Annahme und Änderung einschlägiger Rechtsvorschriften erreicht, sondern auch durch Langzeitprojekte (Einführung einheitlicher Ansprechpartner und Zusammenarbeit der Verwaltungen). Die ursprüngliche Frist zur Umsetzung der Richtlinie wurde in mehreren Mitgliedstaaten deutlich überschritten. Eine erfolgreiche Umsetzung der Richtlinie erfordert nachhaltiges politisches Engagement und breite Unterstützung auf europäischer, nationaler, regionaler und lokaler Ebene.
Rolle des Europäischen Parlaments
Bei der Liberalisierung der selbstständigen Erwerbstätigkeiten war das Parlament eine treibende Kraft. Es hat unter anderem auf die strenge Abgrenzung der Tätigkeiten Wert gelegt, die Inländerinnen und Inländern vorbehalten bleiben können (z. B. diejenigen, die mit der Ausübung der öffentlichen Gewalt in Verbindung stehen). Zu erwähnen ist auch die Untätigkeitsklage in Bezug auf die Verkehrspolitik, die das Parlament gegen den Rat beim Gerichtshof einreichte. Die im Januar 1983 eingereichte Klage hat zu einem Urteil des Gerichtshofs geführt (Rechtssache Nr. 13/83 vom 22. Mai 1985) in dem der Rat verurteilt wurde, weil er es unterlassen hat, die Dienstleistungsfreiheit auf dem Gebiet des grenzüberschreitenden Verkehrs sicherzustellen oder die Bedingungen für die Zulassung von Verkehrsunternehmerinnen und Verkehrsunternehmern in einem Mitgliedstaat, in dem sie nicht ansässig sind, festzulegen. Dabei handelte es sich um eine Verletzung des Vertrags von Rom. Somit war der Rat gezwungen, die erforderlichen Rechtsvorschriften zu verabschieden. Die Rolle des Parlaments hat mit der Anwendung des im Vertrag von Maastricht festgelegten Mitentscheidungsverfahrens und nun auch von dessen aktuellem Nachfolger, dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren, auf die meisten Aspekte der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs an Bedeutung gewonnen.
Das Parlament spielte auch bei der Annahme der Dienstleistungsrichtlinie eine zentrale Rolle und verfolgt deren Umsetzung genau. Darüber hinaus übt es Druck auf die Mitgliedstaaten aus, ihren in der Richtlinie festgelegten Verpflichtungen nachzukommen und für eine ordnungsgemäße Umsetzung der Richtlinie zu sorgen. Am 15. Februar 2011 nahm das Parlament eine Entschließung zur Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie an, gefolgt von einer Entschließung zu dem Verfahren der gegenseitigen Evaluierung im Rahmen der Dienstleistungsrichtlinie am 25. Oktober 2011. Im Anschluss an die Mitteilung der Kommission vom 8. Juni 2012 zur Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie wurde vom Ausschuss für Binnenmarkt und Verbraucherschutz des Parlaments ein Bericht mit dem Titel „Binnenmarkt für Dienstleistungen: Stand der Dinge und nächste Schritte“ ausgearbeitet, der am 11. September 2013 im Plenum angenommen wurde.
Am 7. Februar 2013 nahm das Parlament außerdem eine Entschließung mit Empfehlungen an die Kommission zur Governance des Binnenmarktes an, in der die Bedeutung des Dienstleistungssektors als Kernbereich für das Wachstum, der grundlegende Charakter der Dienstleistungsfreiheit und die Vorteile der vollständigen Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie hervorgehoben wurden.
Das Parlament hat an Legislativvorschlägen zu Telekommunikationsdienstleistungen gearbeitet, denen es eine hohe Bedeutung zumaß, wie zum Beispiel an einer Verordnung über die elektronische Identifizierung und Vertrauensdienste für elektronische Transaktionen im Binnenmarkt (Verordnung (EU) Nr. 910/2014) und an einer Verordnung über Maßnahmen zum europäischen Binnenmarkt der elektronischen Kommunikation und zur Verwirklichung des vernetzten Kontinents. In seiner Entschließung vom 4. Juli 2012 unterbreitete das Parlament der Kommission Empfehlungen in Bezug auf Finanzdienstleistungen im Bereich des Zugangs zu grundlegenden Zahlungsdienstleistungen sowie zu Verbraucherkrediten und grundpfandrechtlich besicherten Krediten (Richtlinie 2014/17/EU). Außerdem nahm das Parlament am 12. März 2014 eine Entschließung zu Pauschal- und Bausteinreisen an. Die Hypothekarkredit-Richtlinie (Richtlinie 2014/17/EU) verbessert den Verbraucherschutz, indem sie für eine Umsetzung der Mindestanforderungen sorgt, die die Mitgliedstaaten erfüllen müssen, um Personen, die Wohnimmobilienkreditverträge abgeschlossen haben, zu schützen, und um dafür zu sorgen, dass Verbraucherinnen und Verbraucher die erforderlichen Informationen erhalten und finanziell in der Lage sind, ihr Hypothekendarlehen abzuzahlen. Mit der Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente (Richtlinie 2014/65/EU) sollen außerdem die Regulierung und Transparenz der Finanzmärkte in der gesamten EU sichergestellt werden. 2019 stimmte das Parlament über die Richtlinie (EU) 2019/882 über die Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen ab. Diese Richtlinie zielt darauf ab, die Hindernisse für den freien Handel von Produkten und Dienstleistungen für Bürgerinnen und Bürger mit Behinderungen bzw. funktionellen Einschränkungen zu beseitigen.
Aus der von der Fachabteilung Wirtschaft, Wissenschaft und Lebensqualität des Parlaments in Auftrag gegebenen Studie[1] von 2019 geht hervor, dass die vom Parlament angenommenen Rechtsakte zur Dienstleistungsfreiheit, einschließlich in den Bereichen der beruflichen Qualifikation und des Einzelhandels einen Nutzen im Wert von jährlich 284 Mrd. EUR in dem von der Dienstleistungsrichtlinie abgedeckten Bereich, von 80 Mrd. EUR im Bereich freiberuflicher Dienstleistungen und von 20 Mrd. EUR im Bereich von Dienstleistungen mit Bezug zur Vergabe öffentlicher Aufträge bringen. Laut einer anderen von der Fachabteilung Wirtschaft, Wissenschaft und Lebensqualität veröffentlichten Studie[2] über rechtliche Hindernisse für Binnenmarktvorschriften in den Mitgliedstaaten leistet der Dienstleistungssektor auch einen wichtigen Beitrag zum Wirtschaftswachstum in der EU. Auf Dienstleistungen entfallen 24% des grenzüberschreitenden Handels mit Waren und Dienstleistungen innerhalb der EU (ein Anstieg gegenüber rund 20% Anfang der 2000er Jahre). In der Studie wurde außerdem festgestellt, dass Dienstleistungen zwar 78% der Bruttowertschöpfung in der EU ausmachen, jedoch die Kosten der Geschäftstätigkeit durch die Heterogenität der Rechtsvorschriften und die Schwierigkeiten beim Zugang zu Informationen erhöht und der freie Dienstleistungsverkehr und die Niederlassungsfreiheit dadurch eingeschränkt werden.
In seiner Entschließung vom 17. April 2020 zu abgestimmten Maßnahmen der EU zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie und ihrer Folgen wies das Parlament darauf hin, dass der Binnenmarkt die Quelle unseres gemeinsamen Wohlstands und Wohlergehens und ein Schlüsselelement der unmittelbaren und fortlaufenden Reaktion auf den Ausbruch der COVID-19-Pandemie ist. Darüber hinaus erinnerte das Parlament in seiner Entschließung vom 19. Juni 2020 daran, dass der Schengen-Raum eine geschätzte Errungenschaft ist, die im Zentrum des Projekts der Europäischen Union steht, und forderte die Mitgliedstaaten auf, die Einschränkungen der Freizügigkeit zurückzunehmen und ihre Bemühungen zu verstärken, wenn es um die Vollendung der Schengen-Integration mit allen EU-Mitgliedstaaten geht.
Am 25. November 2020 nahm das Parlament eine Entschließung mit dem Titel „Auf dem Weg zu einem nachhaltigeren Binnenmarkt für Unternehmen und Verbraucher“ an, in der der Schwerpunkt auf verschiedenen Politikbereichen liegt, insbesondere auf dem Gebiet des Verbraucherschutzes und der Beteiligung der Unternehmen am ökologischen Wandel (wesentlich für die Verbesserung der Nachhaltigkeit des Binnenmarkts). Auf Ersuchen des IMCO-Ausschusses veröffentlichte die Fachabteilung Wirtschaft, Wissenschaft und Lebensqualität der Generaldirektion Interne Politikbereiche des Parlaments ein Briefing mit dem Titel „The European Services Sector and the Green Transition“ (Der Dienstleistungssektor in der EU und der Übergang zu einer umweltverträglichen Wirtschaft), wodurch ein Beitrag zu dieser Entschließung geleistet wurde.
Am 20. Januar 2021 nahm das Parlament eine Entschließung zu der Stärkung des Binnenmarktes: die Zukunft des freien Dienstleistungsverkehrs an. In der Entschließung wird betont, dass die Umsetzung der Binnenmarktvorschriften für Dienstleistungen sichergestellt werden muss und die Durchsetzungsmaßnahmen der Kommission verbessert werden müssen. Es wird außerdem hervorgehoben, dass der Stand der Umsetzung des EU-Rechtsrahmens für Dienstleistungen bewertet werden muss und Unternehmen durch einen besseren Zugang zu Informationen gestärkt werden müssen.
Infolge der Corona-Pandemie wurde die Freizügigkeit im EU-Binnenmarkt, einschließlich des freien Dienstleistungsverkehrs, in vielerlei Hinsicht eingeschränkt. Dieses Thema wurde am 9. November 2020 in einem Web-Seminar[3] der Fachabteilung Wirtschaft, Wissenschaft und Lebensqualität über die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf den Binnenmarkt und den Verbraucherschutz erörtert. Dabei wurde festgestellt, dass im Dienstleistungssektor der EU in den kommenden Jahren erhebliche Veränderungen beim Angebot und der Nachfrage zu erwarten sind, die durch den beschleunigten technologischen Fortschritt und Änderungen des Verbraucherverhaltens infolge der Pandemie bedingt sind. Darüber hinaus wurde eine von der Fachabteilung Wirtschaft, Wissenschaft und Lebensqualität in Auftrag gegebene Studie[4] veröffentlicht und dem Ausschuss für Binnenmarkt und Verbraucherschutz im Februar 2021 vorgelegt. Darin kommt man zu der Erkenntnis, dass die anfangs von den Mitgliedstaaten verfügten Grenzschließungen zwar erhebliche Auswirkungen auf die Erbringung grenzübergreifender freiberuflicher Dienstleistungen hatten, dass aber die Verbreitung digitaler Werkzeuge zu einem gewissen Grad eine Normalität ermöglicht hat.
Der Initiativbericht über die Beseitigung von nichttarifären und nichtsteuerlichen Handelshemmnissen im Binnenmarkt, der am 3. Dezember 2021 vom IMCO-Ausschuss angenommen wurde, ist in dieser Hinsicht sehr aktuell, da er sich nicht nur mit den generell weiterhin bestehenden Hindernissen für die Waren- und Dienstleistungsfreiheit befasst, sondern insbesondere auch mit der Frage, wie die Corona-Pandemie die vier Freiheiten (freier Warenverkehr, freier Personenverkehr, freier Dienstleistungsverkehr und freier Kapitalverkehr) beeinträchtigt hat. Auch wenn einige der durch die pandemiebedingten Beschränkungen verursachten wirtschaftlichen Probleme mittels digitaler Werkzeuge zu einem gewissen Maße behoben werden konnten, besteht diese Beeinträchtigung der vier Freiheiten dennoch fort. Das Parlament nahm den Bericht am 17. Februar 2022 als Entschließung an.
Christina Ratcliff / Barbara Martinello / Vasileios Litos