Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit

Die Niederlassungsfreiheit und die Dienstleistungsfreiheit sind für die unternehmerische und berufliche Mobilität innerhalb der EU von entscheidender Bedeutung. Die vollständige Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie ist ausschlaggebend für die Festigung des Binnenmarkts, doch es bestehen nach wie vor Hindernisse. Die COVID-19-Pandemie hat neue Herausforderungen mit sich gebracht. Als Reaktion darauf verabschiedete das Europäische Parlament im Februar 2022 eine Entschließung, in der es darlegte, wie die wirtschaftliche Erholung nach der COVID-19-Pandemie die negativen Auswirkungen auf diese überaus wichtigen Freiheiten am besten abmildern kann.

Rechtsgrundlage

Artikel 26 (Binnenmarkt), Artikel 49 bis 55 (Niederlassung) sowie Artikel 56 bis 62 (Dienstleistungen) des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV).

Ziele

Selbstständig Erwerbstätige und Fachkräfte oder juristische Personen im Sinne von Artikel 54 AEUV, die in einem Mitgliedstaat rechtmäßig eine Tätigkeit ausüben, können i) ihre Wirtschaftstätigkeit in einem anderen Mitgliedsstaat stetig und dauerhaft ausführen (Niederlassungsfreiheit: Artikel 49 AEUV) oder ii) ihre Dienstleistungen vorübergehend in anderen Mitgliedstaaten anbieten und erbringen, aber weiter im Herkunftsland ansässig bleiben (Dienstleistungsfreiheit: Artikel 56 AEUV). Dies setzt nicht nur die Abschaffung jeglicher Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit voraus, sondern auch die Annahme von Maßnahmen zur Erleichterung der Ausübung dieser Freiheiten, etwa die Harmonisierung der nationalen Vorschriften über den Zugang zu diesen Tätigkeiten oder deren gegenseitige Anerkennung, damit diese Freiheiten tatsächlich in Anspruch genommen werden können (2.1.6).

Errungenschaften

A. Liberalisierungsregelung im Vertrag

1. „Grundfreiheiten“

Das Niederlassungsrecht umfasst das Recht, in einem anderen Mitgliedstaat nach den gleichen Bestimmungen, die dieser für seine eigenen Staatsangehörigen festgelegt hat, selbstständige Erwerbstätigkeiten aufzunehmen und auszuüben sowie Unternehmen zu gründen und zu leiten.

Die Dienstleistungsfreiheit bezieht sich auf alle Leistungen, die in der Regel gegen Entgelt erbracht werden, soweit sie nicht den Vorschriften über den freien Waren- und Kapitalverkehr und über die Freizügigkeit der Personen unterliegen. Die Dienstleistungen erbringende Person kann zur Erbringung ihrer Leistungen ihre Tätigkeit vorübergehend in dem Mitgliedstaat ausüben, in dem die Leistung erbracht wird, und zwar unter den Voraussetzungen, die dieser Mitgliedstaat für seine eigenen Staatsangehörigen vorschreibt.

2. Ausnahmen

Nach dem AEUV sind Tätigkeiten, die mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind, von der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit ausgeschlossen (Artikel 51 AEUV). Dieser Ausschluss wird allerdings durch eine restriktive Auslegung begrenzt: Ausschlüsse können sich nur auf diejenigen Tätigkeiten und Funktionen beziehen, die die Ausübung öffentlicher Gewalt beinhalten. Zudem kann ein ganzer Berufszweig nur dann ausgeschlossen werden, wenn alle Tätigkeiten dieses Berufs der Ausübung öffentlicher Gewalt gewidmet sind bzw. wenn der Teil, der mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden ist, von den übrigen Teilen nicht getrennt werden kann. Ausnahmeregelungen gestatten den Mitgliedstaaten, die Erzeugung von Kriegsmaterial oder den Handel damit (Artikel 346 Absatz 1 Buchstabe b AEUV) auszuschließen und aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit (Artikel 52 Absatz 1) eigene Regelungen für Ausländer beizubehalten.

B. Dienstleistungsrichtlinie – Vollendung des Binnenmarkts

Mit der Dienstleistungsrichtlinie (Richtlinie 2006/123/EG) wurde die Dienstleistungsfreiheit innerhalb der EU erweitert. Diese Richtlinie spielt aufgrund ihrer umfangreichen potenziellen Vorteile für Verbraucherinnen und Verbraucher sowie KMU eine maßgebliche Rolle bei der Vollendung des Binnenmarkts. Mit ihr soll ein offener EU-Binnenmarkt für Dienstleistungen geschaffen und zugleich die Qualität der Dienstleistungen für die Verbraucherinnen und Verbraucher sichergestellt werden. Nach der Mitteilung der Kommission mit dem Titel „Europa 2020 – eine Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum“ könnten durch die vollständige Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie der Handel mit privaten Dienstleistungen um 45% und ausländische Direktinvestitionen um 25% gesteigert werden, was eine Zunahme des BIP um 0,5% bis 1,5% zur Folge hätte. Die Richtlinie trägt zur Vereinfachung und Modernisierung des administrativen und ordnungspolitischen Rahmens bei. Dies wird nicht nur durch die Überprüfung der bestehenden Rechtsvorschriften und die Annahme und Änderung einschlägiger Rechtsvorschriften erreicht, sondern auch durch Langzeitprojekte (Einführung einheitlicher Ansprechpartner und Zusammenarbeit der Verwaltungen).

Die Umsetzung dieser Richtlinie hat sich erheblich verzögert. Während die ersten Reformen zur Beseitigung zahlreicher Hindernisse im Binnenmarkt für Dienstleistungen geführt haben, hat die Dynamik seit 2012 nachgelassen. Die Reformbemühungen haben sich verlangsamt, wobei nennenswerte Fortschritte vor allem in den Mitgliedstaaten zu verzeichnen waren, die entweder finanzielle Unterstützung erhalten oder umfassende nationale Reformagenden aufweisen. Trotz des Potenzials der Richtlinie, das BIP der EU um 2,6% zu steigern, wurden bislang nur 0,9% dieses Wachstumspotenzials ausgeschöpft, sodass eine ungenutzte Marge von 1,7% verbleibt. Obwohl diese Verzögerungen von der Kommission anerkannt werden, ist es ihrer Ansicht nach nicht notwendig, die Richtlinie zu ändern. Stattdessen soll sichergestellt werden, dass die Richtlinie durch Durchsetzungsmaßnahmen und die Einführung des „Dienstleistungspakets“, das neue Legislativvorschläge zur Stärkung des Dienstleistungssektors und zur Schließung der verbleibenden Umsetzungslücken enthält, ihr gesamtes Potenzial entfaltet.

Rolle des Europäischen Parlaments

Das Parlament spielte eine Schlüsselrolle bei der Liberalisierung selbstständiger Tätigkeiten, indem es sicherstellte, dass bestimmte begrenzte Tätigkeiten den Staatsangehörigen vorbehalten waren. Zudem verklagte es den Rat vor dem Gerichtshof der Europäischen Union wegen Untätigkeit im Bereich der Verkehrspolitik. Im Urteil von 1985 (Rechtssache Nr. 13/83 vom 22. Mai 1985) wurde festgestellt, dass der Rat gegen die Römischen Verträge verstieß, indem er nicht für die Dienstleistungsfreiheit im Bereich des grenzüberschreitenden Verkehrs sorgte. Folglich musste der Rat entsprechende Rechtsvorschriften erlassen. Die Rolle des Parlaments wurde durch die Anwendung des Mitentscheidungsverfahrens und des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens in Bezug auf die Niederlassungsfreiheit und die Erbringung von Dienstleistungen erweitert.

Das Parlament spielte auch bei der Annahme und Überwachung der Anwendung der Dienstleistungsrichtlinie eine entscheidende Rolle und forderte die Mitgliedstaaten nachdrücklich auf, die Bestimmungen der Richtlinie einzuhalten und ordnungsgemäß umzusetzen. Am 15. Februar 2011 nahm es eine Entschließung zur Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie und am 25. Oktober 2011 eine weitere Entschließung zu dem Verfahren der gegenseitigen Evaluierung an. Nach einer Mitteilung der Kommission vom Juni 2012 arbeitete der IMCO-Ausschuss des Parlaments einen Bericht über den Stand und die Zukunft des Binnenmarkts für Dienstleistungen aus, der am 11. September 2013 im Plenum angenommen wurde.

Am 7. Februar 2013 nahm das Parlament außerdem eine Entschließung mit Empfehlungen an die Kommission zur Governance des Binnenmarktes an, in der die Bedeutung des Dienstleistungssektors als Kernbereich für das Wachstum, der grundlegende Charakter der Dienstleistungsfreiheit und die Vorteile der vollständigen Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie hervorgehoben wurden.

Das Parlament hat den Vorschlägen über Telekommunikation Priorität eingeräumt, wie etwa Verordnungen über elektronische Identifizierung (Verordnung (EU) Nr. 910/2014) und einen „vernetzten Kontinent“. In seiner Entschließung vom Juli 2012 behandelte das Parlament Finanzdienstleistungen, einschließlich grundlegender Zahlungsdienstleistungen und Hypothekarkrediten (Richtlinie 2014/17/EU). In einer Entschließung vom März 2014 ging es auch auf Pauschalreisen ein. Mit der Hypothekarkredit-Richtlinie wird der Verbraucherschutz durchgesetzt und eine fundierte finanzielle Leistungsfähigkeit sichergestellt. Die Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente (Richtlinie 2014/65/EU) fördert die Transparenz. Im Jahr 2019 befasste sich das Parlament mit Barrierefreiheitsanforderungen (Richtlinie (EU) 2019/882) zur Unterstützung von Bürgerinnen und Bürgern mit Behinderungen. Zur Unterstützung dieses Ziels wurde in einer Entschließung vom Oktober 2022 die Einrichtung eines Zentrums „AccessibleEU“ vorgeschlagen, das Sachverständige und Fachleute für Aspekte der Barrierefreiheit zusammenbringen soll.

Eine Studie[1] aus dem Jahr 2019 ergab, dass die EU-Rechtsvorschriften über den freien Dienstleistungsverkehr, auch in den Bereichen Berufsqualifikationen und Einzelhandel, erhebliche wirtschaftliche Vorteile mit sich bringen: 284 Mrd. EUR pro Jahr gemäß der Dienstleistungsrichtlinie, 80 Mrd. EUR aus freiberuflichen Dienstleistungen und 20 Mrd. EUR aus Dienstleistungen im Rahmen der öffentlichen Auftragsvergabe. Aus einer weiteren Studie[2] geht auch hervor, dass der Dienstleistungssektor, auf den 24% des EU-Binnenhandels (gegenüber 20% am Anfang der 2000er-Jahre) und 78% der Bruttowertschöpfung der EU entfallen, ausschlaggebend für das Wachstum ist. Die vielen unterschiedlichen Rechtsvorschriften sowie die Herausforderungen im Bereich Informationspolitik wurden jedoch in der Studie als Faktoren genannt, die die Unternehmenskosten erhöhen und den freien Dienstleistungsverkehr und die Niederlassungsfreiheit in der EU behindern.

In seiner Entschließung vom 17. April 2020 erkannte das Parlament die entscheidende Rolle des Binnenmarkts für den Wohlstand Europas sowie für die Reaktion auf die COVID-19-Pandemie an. Darüber hinaus hob es in seiner Entschließung vom 19. Juni 2020 die Bedeutung des Schengen-Raums für die EU hervor und forderte die Mitgliedstaaten nachdrücklich auf, ihre Reisebeschränkungen zu lockern und auf eine vollständige Schengen-Integration hinzuarbeiten.

Am 25. November 2020 nahm das Parlament eine Entschließung mit dem Titel „Auf dem Weg zu einem nachhaltigeren Binnenmarkt für Unternehmen und Verbraucher“ an, in der der Schwerpunkt auf verschiedenen Politikbereichen liegt, insbesondere auf dem Gebiet des Verbraucherschutzes und der Beteiligung der Unternehmen am ökologischen Wandel (wesentlich für die Verbesserung der Nachhaltigkeit des Binnenmarkts). Auf Ersuchen des IMCO-Ausschusses veröffentlichte die Fachabteilung Wirtschaft, Wissenschaft und Lebensqualität der Generaldirektion Interne Politikbereiche des Parlaments ein Briefing mit dem Titel „The European Services Sector and the Green Transition“ (Der Dienstleistungssektor in der EU und der Übergang zu einer umweltverträglichen Wirtschaft), mit dem ein Beitrag zu dieser Entschließung geleistet wurde.

Am 20. Januar 2021 nahm das Parlament eine Entschließung mit dem Titel „Stärkung des Binnenmarktes: die Zukunft des freien Dienstleistungsverkehrs“ an. In der Entschließung wird betont, dass die Umsetzung der Binnenmarktvorschriften für Dienstleistungen sichergestellt werden muss und die Durchsetzungsmaßnahmen der Kommission verbessert werden müssen. Es wird außerdem hervorgehoben, dass der Stand der Umsetzung des EU-Rechtsrahmens für Dienstleistungen bewertet werden muss und Unternehmen durch einen besseren Zugang zu Informationen gestärkt werden müssen.

Infolge der COVID-19-Pandemie wurde die Freizügigkeit im EU-Binnenmarkt, einschließlich des freien Dienstleistungsverkehrs, erneut eingeschränkt. In einem Webinar[3] der Fachabteilung Wirtschaft, Wissenschaft und Lebensqualität, das am 9. November 2020 stattfand, wurden die Auswirkungen der Pandemie untersucht und wesentliche künftige Veränderungen bei der Nachfrage und dem Angebot an Dienstleistungen aufgrund des technischen Fortschritts und veränderter Verbrauchergewohnheiten vorhergesagt. In einer dem IMCO-Ausschuss im Februar 2021 vorgelegten Studie[4] wurde hervorgehoben, dass die anfänglichen Grenzschließungen zwar grenzübergreifende freiberufliche Dienstleistungen beeinträchtigten, die Einführung digitaler Instrumente jedoch die Rückkehr zu einem gewissen Maß an Normalität erleichterte.

In der Entschließung des Parlaments vom 17. Februar 2022 zu der Beseitigung von nichttarifären und nichtsteuerlichen Handelshemmnissen im Binnenmarkt wurden nicht nur die generell fortbestehenden Hindernisse für die Waren- und Dienstleistungsfreiheit, sondern insbesondere auch die Frage behandelt, wie die COVID-19-Pandemie die vier Freiheiten (freier Warenverkehr, freier Personenverkehr, freier Dienstleistungsverkehr und freier Kapitalverkehr) beeinträchtigt hat. Auch wenn einige der durch die pandemiebedingten Beschränkungen verursachten wirtschaftlichen Probleme mittels digitaler Werkzeuge zu einem gewissen Maße behoben werden konnten, besteht diese Beeinträchtigung der vier Freiheiten dennoch fort.

Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie auf der Website des Ausschusses für Binnenmarkt und Verbraucherschutz.

 

[1]Pelkmans, J.: Contribution to growth: The European Digital Single Market – Delivering economic benefits for citizens and businesses (Beitrag zum Wachstum: Der europäische digitale Binnenmarkt – Wirtschaftlicher Nutzen für Bürgerinnen und Bürger und Unternehmen), Veröffentlichung für den Ausschuss für Binnenmarkt und Verbraucherschutz, Fachabteilung Wirtschaft, Wissenschaft und Lebensqualität, Europäisches Parlament, Luxemburg 2019.
[2]Dahlberg, E. u. a.: Legal obstacles in Member States to Single Market rules (Rechtliche Hindernisse für Binnenmarktvorschriften in den Mitgliedstaaten), Veröffentlichung für den Ausschuss für Binnenmarkt und Verbraucherschutz, Fachabteilung Wirtschaft, Wissenschaft und Lebensqualität, Europäisches Parlament, Luxemburg 2020.
[3]Milieu Consulting SRL: The impact of COVID-19 on the Internal Market and Consumer Protection – IMCO Webinar Proceedings (Protokoll des Online-Seminars des IMCO-Ausschusses zu den Auswirkungen von COVID-19 auf Binnenmarkt und Verbraucherschutz), Veröffentlichung für den Ausschuss für Binnenmarkt und Verbraucherschutz, Fachabteilung Wirtschaft, Wissenschaft und Lebensqualität, Europäisches Parlament, Luxemburg 2020.
[4]Marcus, J. S. u. a.: The impact of COVID-19 on the Internal Market (Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Binnenmarkt), Veröffentlichung für den Ausschuss für Binnenmarkt und Verbraucherschutz, Fachabteilung Wirtschaft, Wissenschaft und Lebensqualität, Europäisches Parlament, Luxemburg 2021.

Christina Ratcliff / Jordan De Bono / Barbara Martinello