Rechtsstaatsmechanismus: Schutz des EU-Haushalts und der europäischen Werte

Die EU führt ein Verfahren zur Kürzung von EU-Mitteln ein, wenn Mitgliedstaaten gegen die Rechtsstaatlichkeit verstoßen.

Das Europaparlament hat am 16. Dezember 2020 eine Einigung mit dem Rat über einen neuen Mechanismus gebilligt, der es der EU erlauben soll, Zahlungen an Mitgliedstaaten auszusetzen, wenn diese gegen die Rechtsstaatlichkeit verstoßen.


Der Beschluss über die Kürzung von EU-Mitteln erfolgt nach einem entsprechenden Kommissionsvorschlag durch den Rat, der mit qualifizierter Mehrheit entscheidet.


Die neuen Regeln gelten seit dem 1. Januar 2021. Ungarn und Polen haben vor dem Europäischen Gerichtshof Klagen eingereicht, welche die Rechtmäßigkeit des Mechanismus in Frage stellen. Die Klagen setzen die Anwendung des Mechanismus jedoch nicht aus.


Das Parlament hat stets argumentiert, dass der Mechanismus in Kraft ist und die Kommission die rechtliche Pflicht hat, die finanziellen Interessen der EU zu schützen. In Entschließungen im März, Juni und Juli 2021 drängte das Parlament die Kommission zum Handeln und erklärte, dass es bereit ist, rechtliche Schritte gegen die Kommission einzuleiten, wenn diese ihren Verpflichtungen nicht nachkommt.


In einer Plenardebatte am 5. Oktober 2020 hatten die Europaabgeordneten davor gewarnt, dass die europäischen Werte in Gefahr seien. Sie erklärten, dass Mittel aus dem langfristigen Haushalt und dem Aufbauplan nicht in die Hände derjenigen gelangen sollten, die sich gegen Demokratie und Grundrechte in Europa stellen.


In einem am 7. Oktober 2020 angenommenen Bericht forderten die Abgeordneten einen neuen Mechanismus zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit in ganz Europa sowie wirksame Sanktionen gegen Mitgliedstaaten, bei denen Verstöße festgestellt werden. Sie sagten auch, dass sich die EU-Institutionen auf klare Regeln einigen sollten, die den Erhalt von EU-Geldern an die Achtung der Rechtsstaatlichkeit knüpfen.

Justitia, Göttin der Gerechtigkeit ©Helmutvogler /Adobe Stock
Die Achtung der Rechtsstaatlichkeit war Thema im Plenum

Was bedeutet Rechtsstaatlichkeit?


Die Rechtsstaatlichkeit ist in Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union als einer der Werte verankert, auf die sich die EU gründet. Sie bedeutet, dass Regierungen das Recht achten sollten und keine willkürlichen Entscheidungen treffen dürfen. Die Bürger sollten in der Lage sein, das Handeln von Regierungen vor unabhängigen Gerichten anzufechten.


Die Rechtsstaatlichkeit umfasst auch die Bekämpfung von Korruption und den Schutz der Medienfreiheit, wodurch sichergestellt wird, dass die Öffentlichkeit angemessen über staatliche Maßnahmen informiert wird.


Den Europäern ist das Thema ein wichtiges Anliegen. In einer Eurobarometer-Umfrage aus dem Jahr 2019 stuften mindestens 85 Prozent der Befragten in der EU alle Aspekte der Rechtsstaatlichkeit als wesentlich oder wichtig ein. In einer Umfrage vom Oktober 2020 sagten 77 Prozent der Befragten, dass die Achtung der Rechtsstaatlichkeit und demokratischer Grundsätze durch die nationalen Regierungen Bedingung für den Erhalt von EU-Mitteln sein sollte.

Bestehende EU-Mechanismen zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit


Die EU verfügt bereits über Instrumente zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit. Am 30. September veröffentlichte die Europäische Kommission den ersten jährlichen Bericht über die Rechtsstaatlichkeit, in dem sowohl positive als auch negative Entwicklungen in der Europäischen Union festgestellt werden. Seit ihrem EU-Beitritt im Jahr 2007 wird die Lage in Rumänien und Bulgarien verfolgt und bewertet.


Außerdem gibt es einen Rechtsstaatlichkeitsdialog im Rat. Die deutsche Ratspräsidentschaft führte im November mit fünf EU-Ländern länderspezifische Gespräche.


Wenn die Kommission der Auffassung ist, dass ein Mitgliedstaat gegen EU-Recht verstößt, kann sie ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten. Dieses kann wiederum zu finanziellen Sanktionen führen, die vom Europäischen Gerichtshof festgelegt werden. Ein anderes Verfahren gemäß Artikel 7 des EU-Vertrags ermöglicht es dem Rat, Empfehlungen abzugeben oder einstimmig über Sanktionen gegen einen Mitgliedstaat zu entscheiden, einschließlich der Aussetzung bestimmter Mitgliedsrechte.

Warum weitere Maßnahmen?


Nach Ansicht der Europaabgeordneten sind die bereits bestehenden Instrumente unzureichend. Obwohl es laufende Anhörungen im Rat gemäß Artikel 7 zu Polen und Ungarn gibt, hatte das Parlament sein Bedauern darüber zum Ausdruck gebracht, dass beide Länder bei der Lösung der Probleme keine bedeutenden Fortschritte erzielt hätten.


In der Debatte vom 5. Oktober 2020 begrüßten die Abgeordneten den Jahresbericht der Kommission über die Rechtsstaatlichkeit, forderten jedoch weitere Maßnahmen zur Durchsetzung. „Die Beobachtung allein wird weder die Unabhängigkeit der Justiz in Polen wiederherstellen noch das Online-Medium Index in Ungarn retten“, sagte Berichterstatter Michal Šimečka (Renew Europe, Slowakei).


Sein Bericht wurde am 7. Oktober 2020 angenommen. Darin wurde ein Mechanismus gefordert, der die bestehenden Instrumente konsolidiert und einen jährlichen Überwachungszyklus mit länderspezifischen Empfehlungen, Zeit- und Zielvorgaben für die Umsetzung festlegt. Der Zyklus soll als Grundlage für die Auslösung von Artikel 7 oder die Aussetzung von Geldern für einen Mitgliedstaat dienen.

Schutz finanzieller Interessen der EU


Das Vorliegen von Korruption oder Mängeln bei der Unabhängigkeit der Justiz kann bedeuten, dass EU-Gelder, die einem Mitgliedstaat zugewiesen werden, nicht vor Missbrauch geschützt sind. Die Kommission legte 2018 einen Gesetzesvorschlag vor, mit dem die finanziellen Interessen der Union geschützt werden sollen, wenn Defizite im Bereich der Rechtsstaatlichkeit festgestellt werden.


Der Standpunkt des Parlaments zu dem Vorschlag wurde Anfang 2019 angenommen. Der Vorschlag stand auch im Zusammenhang mit dem Ergebnis der Verhandlungen über den neuen langfristigen EU-Haushalt. Das Parlament bestand darauf, dass eine Einigung über den Haushalt 2021-2027 nur möglich sei, wenn ausreichende Fortschritte bei diesen Rechtsvorschriften erzielt würden.


Im Juli 2020 einigten sich die EU-Staats- und Regierungschefs darauf, rechtsstaatliche Auflagen einzuführen, also den Erhalt von EU-Mitteln durch einen Mitgliedstaat von der Achtung der Rechtsstaatlichkeit abhängig zu machen. Der deutsche Ratsvorsitz legte im Herbst einen Kompromissvorschlag dazu vor, den die Abgeordneten jedoch in der Debatte am 5. Oktober 2020 als unzureichend einstuften.


„Ein Mechanismus, der aufgrund von Hintertüren oder zögerlichen Verfahren in der Praxis niemals ausgelöst werden kann, dient nur den Interessen derjenigen, die keine Maßnahmen ergreifen wollen“, erklärte Petri Sarvamaa (EVP, Finnland).

Einigung mit dem Rat


Die Verhandlungen zwischen Parlament und Rat wurden im Oktober aufgenommen. Die Ko-Berichterstatter des Parlaments waren Petri Sarvamaa und Eider Gardiazabal Rubial (S&D, Spanien).


Am 5. November 2020 wurde eine Einigung erzielt. Das Verhandlungsteam des Parlaments konnte sicherstellen, dass der Mechanismus nicht nur in Korruptions- und Betrugsfällen zum Einsatz kommen kann, sondern auch bei systematischen Verstößen gegen Grundwerte wie Demokratie oder die Unabhängigkeit der Justiz, wenn diese die Verwaltung von EU-Geldern beeinträchtigen oder zu beeinträchtigen drohen.


Der vereinbarte Text sieht auch den Schutz von Begünstigten wie Studenten, Landwirten und NGOs vor. Sie können über eine Web-Plattform Beschwerde bei der Kommission einreichen, die sie dabei unterstützt, die ihnen zustehenden Beträge zu erhalten. „Für uns war es entscheidend, dass Endempfänger nicht für die Verfehlungen ihrer Regierungen bestraft werden und auch weiterhin die ihnen versprochenen Gelder erhalten können“, betonte Eider Gardiazabal Rubial.