Gemeinsamer Entschließungsantrag - RC-B7-0379/2011Gemeinsamer Entschließungsantrag
RC-B7-0379/2011

GEMEINSAMER ENTSCHLIESSUNGSANTRAG zu der geänderten ungarischen Verfassung

1.7.2011

eingereicht gemäß Artikel 115 Absatz 5 der Geschäftsordnung
anstelle der Entschließungsanträge der Fraktionen:
ALDE (B7‑0379/2011)
S&D (B7‑0380/2011)
GUE/NGL (B7‑0387/2011)

Juan Fernando López Aguilar, Claude Moraes, Monika Flašíková Beňová, Kinga Göncz, Csaba Sándor Tabajdi, Cătălin Sorin Ivan im Namen der S&D-Fraktion
Renate Weber, Sophia in 't Veld, Sarah Ludford, Sonia Alfano, Cecilia Wikström, Alexander Alvaro, Norica Nicolai, Nathalie Griesbeck, Gianni Vattimo im Namen der ALDE-Fraktion
Judith Sargentini, Rui Tavares, Jan Philipp Albrecht, Ulrike Lunacek im Namen der Verts/ALE-Fraktion
Marie-Christine Vergiat im Namen der GUE/NGL-Fraktion

Verfahren : 2011/2655(RSP)
Werdegang im Plenum
Entwicklungsstadium in Bezug auf das Dokument :  
RC-B7-0379/2011
Eingereichte Texte :
RC-B7-0379/2011
Aussprachen :
Angenommene Texte :

Entschließung des Europäischen Parlaments zu der geänderten ungarischen Verfassung

Das Europäische Parlament,

–    unter Hinweis auf Artikel 2, 3, 4, 6 und 7 des Vertrags über die Europäische Union (EUV), Artikel 49, 56, 114, 167 und 258 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), die Charta der Grundrechte der Europäischen Union und die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), in denen es um die Achtung, die Förderung und den Schutz der Grundrechte geht,

–    unter Hinweis auf das Grundgesetz Ungarns, das am 18. April 2011 von der Nationalversammlung der Republik Ungarn angenommen wurde und am 1. Januar 2012 in Kraft tritt (nachfolgend „die neue Verfassung“),

–    unter Hinweis auf die Stellungnahmen Nr. CDL(2011)016 und CDL(2011)001 der Europäischen Kommission für Demokratie durch Recht (Venedig-Kommission) zur neuen ungarischen Verfassung und zu drei rechtlichen Fragen, die sich aus dem Verfahren der Ausarbeitung der neuen ungarischen Verfassung ergeben,

–    unter Hinweis auf den Entschließungsantrag Nr. 12490 zu den schwerwiegenden Rückschlägen auf den Gebieten Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte in Ungarn, der am 25. Januar 2011 in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates eingereicht wurde,

–    unter Hinweis auf das Urteil Nr. 30141/04 des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Schalk und Kopf gegen Österreich) und insbesondere dessen obiter dicta,

-     unter Hinweis auf die im Europäischen Parlament eingereichten mündlichen Anfragen zu der neuen Verfassung Ungarns und auf die Stellungnahmen des Rates und der Kommission zu der geänderten Verfassung Ungarns im Anschluss an die Aussprache vom 8. Juni 2011,

–    gestützt auf Artikel 115 Absatz 5 und Artikel 110 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung,

A.  in der Erwägung, dass sich die Europäische Union gemäß Artikel 2 EUV auf die Werte der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und auf die eindeutige Achtung der Grundrechte und Grundfreiheiten gemäß der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und der EMRK gründet, sowie ferner auf die Anerkennung der Rechtsgültigkeit dieser Rechte, Freiheiten und Grundsätze, was sich auch an dem bevorstehenden Beitritt der EU zur EMRK zeigt,

B.   in der Erwägung, dass Ungarn die EMRK, den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte und andere internationale Rechtsinstrumente, die zur Achtung und Umsetzung der Grundsätze der Gewaltenteilung, der institutionellen Kontrolle und Gegenkontrolle sowie der Förderung von Demokratie und Menschenrechten verpflichten, unterzeichnet hat,

C.  in der Erwägung, dass die Ausarbeitung und Annahme einer neuen Verfassung zwar in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt, aber sowohl die jetzigen Mitgliedstaaten als auch die beitrittswilligen Staaten sowie die EU die Pflicht haben, dafür Sorge zu tragen, dass der Inhalt und die Verfahren mit den Werten der EU, der Charta der Grundrechte und der EMRK in Einklang stehen und dass die angenommenen Verfassungen in Geist und Buchstaben nicht im Widerspruch zu diesen Werten und Texten stehen, und in der Erwägung, dass dies klar dadurch zum Ausdruck kommt, dass mehrere jetzige Mitgliedstaaten der EU ihre Verfassungen überarbeiten und ändern mussten, bevor sie der EU beitreten durften, bzw. ihre Verfassungen im Anschluss an den Beitritt an die Anforderungen der EU-Verträge anpassen mussten, vor allem auf Ersuchen der Kommission,

D.  in der Erwägung, dass es dem verfassunggebenden Prozess an Transparenz fehlte und die Ausarbeitung und Annahme der neuen Verfassung in einem außergewöhnlich kurzen Zeitraum erfolgt sind, sodass eine gründliche, echte öffentliche Debatte über den Textentwurf nicht möglich war, und in der Erwägung, dass eine erfolgreiche und legitime Verfassung auf einem möglichst breiten Konsens beruhen sollte,

E.   in der Erwägung, dass die Verfassung weithin von ungarischen, europäischen und internationalen nichtstaatlichen Organisationen und Einrichtungen, der Venedig-Kommission und von Vertretern der Regierungen der Mitgliedstaaten kritisiert und ausschließlich mit den Stimmen der Abgeordneten der Regierungsparteien angenommen wurde, sodass kein politischer oder gesellschaftlicher Konsens erreicht wurde,

F.   in der Erwägung, dass es die von der Venedig-Kommission geäußerten Bedenken teilt, insbesondere im Hinblick auf Transparenz, Offenheit und Integration und den Zeitrahmen für das Annahmeverfahren, sowie im Hinblick auf die Schwächung des Grundsatzes der Gewaltenteilung, insbesondere die Bestimmungen, die das Verfassungsgericht, die Gerichte und die Richter betreffen und durch welche die Unabhängigkeit der ungarischen Justiz gefährdet werden kann,

G.  in der Erwägung, dass in der neuen Verfassung eine Reihe von Grundsätzen, die Ungarn aufgrund seiner rechtlich verbindlichen internationalen Verpflichtungen zu achten und zu fördern gehalten ist, nicht ausdrücklich verankert sind, beispielsweise das Verbot der Todesstrafe und der lebenslangen Freiheitsstrafe ohne die Möglichkeit einer vorzeitigen Haftentlassung, das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der sexuellen Ausrichtung und die Aussetzung oder Einschränkung von Grundrechten durch besondere Rechtsvorschriften,

H.  in der Erwägung, dass die neue Verfassung durch die in ihr verankerten Werte und ihren unklaren Wortlaut bei der Definition grundlegender Begriffe wie „Familie“ und des Rechts auf Leben ab dem Augenblick der Empfängnis die Gefahr birgt, dass bestimmte gesellschaftliche Gruppen wie ethnische, religiöse und sexuelle Minderheiten, Alleinerziehende, Personen, in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft und Frauen diskriminiert werden,

I.    in der Erwägung, dass der unklare Wortlaut der Präambel – insbesondere derjenigen Teile, in denen es um die Verpflichtungen des ungarischen Staates gegenüber den im Ausland lebenden Magyaren geht – eine Rechtsgrundlage für Handlungen schaffen kann, die Nachbarländer als Einmischung in innere Angelegenheiten auffassen könnten, was zu Spannungen in der Region führen kann,

J.    in der Erwägung, dass in der neuen Verfassung festgelegt ist, dass ihre Präambel Rechtswirkungen entfaltet, was rechtliche und politische Auswirkungen haben und zu Rechtsunsicherheit führen kann,

K.  in der Erwägung, dass die Aufnahme der Charta der Grundrechte der Europäischen Union in die neue Verfassung zu Kompetenzüberschneidungen zwischen ungarischen und internationalen Gerichten führen kann, worauf auch in der Stellungnahme der Venedig-Kommission hingewiesen wurde,

L.   in der Erwägung, dass die neue Verfassung einen umfangreichen Rückgriff auf Grundlagengesetze vorsieht, für deren Annahme auch eine Zweidrittelmehrheit erforderlich ist und die eine große Bandbreite von Angelegenheiten im Zusammenhang mit dem institutionellen System Ungarns, mit der Ausübung von Grundrechten sowie im Zusammenhang mit bedeutenden gesellschaftlichen Übereinkommen betreffen, und in der Erwägung, dass deren Annahme somit praktisch Teil des Prozesses zur Ausarbeitung der neuen ungarischen Verfassung ist,

M.  in der Erwägung, dass gemäß der neuen Verfassung eine Reihe von Angelegenheiten, beispielsweise besondere Aspekte des Familienrechts sowie das Steuer- und Rentensystem, die üblicherweise in den Zuständigkeitsbereich der Regierung fallen oder dem regulären Entscheidungsverfahren der gesetzgebenden Körperschaft unterliegen, auch durch Grundlagengesetze zu regeln sind, wodurch die Bedeutung künftiger Wahlen geschmälert wird und einer Regierung mit Zweidrittelmehrheit weitere Möglichkeiten eröffnet werden, ihre politischen Präferenzen festzuschreiben, und in der Erwägung, dass durch den Erlass spezifischer und detaillierter Vorschriften im Wege von Grundlagengesetzen somit der Grundsatz der Demokratie gefährdet werden kann,

N.  in der Erwägung, dass – wie auch die Venedig-Kommission betont – kultur-, religions-, gesellschafts-, wirtschafts- und finanzpolitische Bestimmungen nicht in Grundlagengesetzen festgeschrieben werden sollten,

O.  in der Erwägung, dass der Haushalt ein außerparlamentarisches Gremium mit begrenzter demokratischer Legitimität, die Befugnis erhält, ein Veto gegen die Annahme des Haushaltsplans einzulegen, und in diesem Fall der Staatspräsident die Nationalversammlung auflösen kann, wodurch die demokratisch gewählte Legislative in ihrem Wirken erheblich eingeschränkt wird,

P.   in der Erwägung, dass das effektive System mit vier parlamentarischen Bürgerbeauftragten so beschnitten werden soll, dass es nur noch einen allgemeinen Bürgerbeauftragten und dessen zwei Stellvertreter gibt, durch die der Schutz der Rechte nicht in demselben Maße gewährleistet sein dürfte und deren Zuständigkeiten nicht diejenigen des früheren Bürgerbeauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit umfassen werden, und in der Erwägung, dass die Zuständigkeiten dieses letztgenannten Bürgerbeauftragten auf eine Behörde übertragen werden sollen, deren Funktionsweise nicht festgelegt ist,

Q.  in der Erwägung, dass die ungarische Regierung und die Regierungsparteien parallel zu der Annahme der neuen Verfassung zahlreiche Schlüsselpositionen neu besetzt haben, beispielsweise die des Generalstaatsanwalts, des Präsidenten des Staatlichen Rechnungshofs und des Präsidenten des Haushaltsrats, in der Erwägung, dass – wie es die neue Verfassung verlangt – das ungarische Parlament kürzlich die Richter gewählt hat, die Mitglieder des neuen ungarischen Verfassungsgerichts sein werden, und in der Erwägung, dass das Nominierungsverfahren und die Wahl nicht von politischem Konsens getragen waren,

R.   in der Erwägung, dass die neue Verfassung sehr allgemeine Bestimmungen zum Rechtssystem enthält und es offenlässt, ob der Oberste Gerichtshof – unter seinem neuen Namen – seinen derzeitigen Präsidenten behalten wird,

S.   in der Erwägung, dass die Parlamentarische Versammlung des Europarates beschlossen hat, auf der Grundlage der Stellungnahme der Venedig-Kommission einen Bericht über die neue ungarische Verfassung auszuarbeiten,

T.   in der Erwägung, dass die Ausarbeitung und Annahme einer neuen Verfassung nicht im Wahlprogramm der Regierungsparteien enthalten war,

U.  in der Erwägung, dass der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Ban Ki-moon, erklärt hat, er würde es begrüßen, wenn die ungarische Regierung in Ungarn und beim Europarat oder den Vereinten Nationen um Rat suchen und Empfehlungen einholen würde, und der Ansicht ist, Ungarn solle sich als Mitgliedstaat der Europäischen Union an die Organe der EU wenden, um Ratschläge einzuholen und die neue Verfassung prüfen zu lassen,

1.   fordert die zuständigen ungarischen staatlichen Stellen auf, sich den Fragen und Bedenken zu widmen, die die Venedig-Kommission in ihren Stellungnahmen thematisiert, und deren Empfehlungen umzusetzen, sei es durch eine Änderung der neuen Verfassung oder durch künftige Grundlagengesetze und einfache Gesetze, insbesondere:

      a – aktiv einen Konsens anzustreben, damit ein höheres Maß an Transparenz gewährleistet wird und damit echte politische und soziale Inklusion sowie eine breite öffentliche Debatte im Zusammenhang mit der bevorstehenden Ausarbeitung und Annahme der in der neuen Verfassung verankerten Grundlagengesetze gefördert werden;

      b – nur Grundlagengesetze zu verabschieden, die ausschließlich den Rahmen und den klar definierten Geltungsbereich der Gesetze über das Steuer- und Rentensystem sowie die Familien‑, Kultur‑, Religions‑, Gesellschafts‑, und Wirtschaftspolitik regeln, damit künftige Regierungen und demokratisch gewählte Legislativen eigenständige Entscheidungen über diese Politikbereiche treffen können; das derzeitige Mandat des Haushaltsrats zu überprüfen;

      c – gemäß Artikel 21 der Charta der Grundrechte, der Verfassung und ihrer Präambel gleichen Rechtsschutz für alle Bürger, ungeachtet ihrer religiösen, ethnischen oder gesellschaftlichen Zugehörigkeit sowie sexuellen Ausrichtung zu gewährleisten;

      d – ausdrücklich in der neuen Verfassung, einschließlich ihrer Präambel, zu garantieren, dass Ungarn die territoriale Integrität anderer Länder achtet, wenn im Ausland lebende Magyaren unterstützt werden sollen;

      e – die Unabhängigkeit der Justiz zu bekräftigen, indem das Recht des Verfassungsgerichts zur ausnahmslosen Überprüfung von Rechtsakten in Bezug auf den Haushalt – entsprechend den Erfordernissen der auf der EMRK basierenden Rechtsvorschriften – wiederhergestellt wird, indem die Bestimmung zum niedrigeren obligatorischen Pensionsalter der Richter überprüft und die Unabhängigkeit der Verwaltung des Justizwesens ausdrücklich gewährleistet wird;

      f – alle zivilen und sozialen Grundrechte im Einklang mit den internationalen Verpflichtungen Ungarns in der neuen Verfassung ausdrücklich zu schützen, die Todesstrafe, die lebenslange Freiheitsstrafe ohne die Möglichkeit einer vorzeitigen Haftentlassung sowie die Diskriminierung aus Gründen der sexuellen Ausrichtung zu verbieten, ausreichende Garantien im Hinblick auf den Schutz der Grundrechte vorzusehen und klarzustellen, dass Grundrechte mit der Geburt erlangt werden und vorbehaltlos gelten;

      g – dafür Sorge zu tragen, dass die Umgestaltung des Systems der parlamentarischen Bürgerbeauftragten nicht dazu benutzt wird, die bestehenden Garantien im Hinblick auf den Schutz und die Förderung von Rechten auf den Gebieten des Schutzes nationaler Minderheiten, des Schutzes personenbezogener Daten und der Transparenz von Informationen, die für die Öffentlichkeit relevant sind, sowie die Unabhängigkeit der für diese Bereiche zuständigen Gremien zu verwässern;

      h – sicherzustellen, dass durch die Aufnahme der Charta der Grundrechte in die neue Verfassung weder Schwierigkeiten in Bezug auf deren Auslegung noch auf etwaige Kompetenzüberschneidungen zwischen den innerstaatlichen Gerichten, dem neuen ungarischen Verfassungsgericht und dem Gerichtshof der Europäischen Union entstehen;

2.   fordert die Kommission auf, eine detaillierte Überprüfung und Analyse der neuen Verfassung und der künftig anzunehmenden Grundlagengesetze durchzuführen, um zu ermitteln, ob sie mit dem Besitzstand der Union und insbesondere der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie mit Geist und Buchstaben der Verträge in Einklang stehen;

3.   beauftragt seine zuständigen Ausschüsse, in Zusammenarbeit mit der Venedig-Kommission und dem Europarat die Angelegenheit weiter zu verfolgen und zu prüfen, ob und wie die Empfehlungen umgesetzt werden;

4.   beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung dem Rat, der Kommission, dem Europarat, den Regierungen und Parlamenten der Mitgliedstaaten, der Agentur für Grundrechte, der OSZE und dem Generalsekretär der Vereinten Nationen zu übermitteln.