BERICHT über den Antrag auf Aufhebung der Immunität von Frank Vanhecke

5.11.2008 - (2008/2092(IMM))

Rechtsausschuss
Berichterstatter: Klaus-Heiner Lehne

Verfahren : 2008/2092(IMM)
Werdegang im Plenum
Entwicklungsstadium in Bezug auf das Dokument :  
A6-0421/2008
Eingereichte Texte :
A6-0421/2008
Aussprachen :
Angenommene Texte :

VORSCHLAG FÜR EINEN BESCHLUSS DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS

über den Antrag auf Aufhebung der Immunität von Frank Vanhecke

(2008/2092(IMM))

Das Europäische Parlament,

–   befasst mit einem vom Justizminister des Königreichs Belgien auf Antrag der Staatsanwaltschaft von Dendermonde übermittelten und am 10. April 2008 im Plenum bekannt gegebenen Antrag auf Aufhebung der Immunität von Frank Vanhecke,

–   nach Anhörung von Frank Vanhecke gemäß Artikel 7 Absatz 3 seiner Geschäftsordnung,

–   gestützt auf die Artikel 9 und 10 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften vom 8. April 1965 und auf Artikel 6 Absatz 2 des Aktes vom 20. September 1976 zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Mitglieder des Europäischen Parlaments,

–   in Kenntnis der Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften vom 12. Mai 1964 und vom 10. Juli 1986[1],

–   unter Hinweis auf die Artikel 58 und 59 der belgischen Verfassung,

–   gestützt auf Artikel 6 Absatz 2 und Artikel 7 seiner Geschäftsordnung,

–   in Kenntnis des Berichts des Rechtsausschusses (A6‑0421/2008),

1.  beschließt, die Immunität von Frank Vanhecke aufzuheben;

2.  beauftragt seinen Präsidenten, diesen Beschluss und den Bericht seines zuständigen Ausschusses unverzüglich der entsprechenden Behörde des Königreichs Belgien zu übermitteln.

  • [1]  Rechtssache 101/63, Wagner/Fohrmann und Krier, Slg. 1964, S. 383, und Rechtssache 149/85, Wybot/Faure und andere, Slg. 1986, S. 2391.

BEGRÜNDUNG

Die Rechtsvorschriften

Die Artikel 9 und 10 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften vom 8. April 1965 lauten wie folgt:

Artikel 9

Wegen einer in Ausübung ihres Amtes erfolgten Äußerung oder Abstimmung dürfen Mitglieder des Europäischen Parlaments weder in ein Ermittlungsverfahren verwickelt noch festgenommen oder verfolgt werden.

Artikel 10

Während der Dauer der Sitzungsperiode des Europäischen Parlaments

a) steht seinen Mitgliedern im Hoheitsgebiet ihres eigenen Staates die den Parlamentsmitgliedern zuerkannte Unverletzlichkeit zu,

b) können seine Mitglieder im Hoheitsgebiet jedes anderen Mitgliedstaates weder festgehalten noch gerichtlich verfolgt werden.

Die Unverletzlichkeit besteht auch während der Reise zum und vom Tagungsort des Europäischen Parlaments.

Bei Ergreifung auf frischer Tat kann die Unverletzlichkeit nicht geltend gemacht werden; sie steht auch nicht der Befugnis des Europäischen Parlaments entgegen, die Unverletzlichkeit eines seiner Mitglieder aufzuheben.

Die Artikel 58 und 59 der belgischen Verfassung besagen:

Artikel 58

Ein Mitglied einer der beiden Kammern darf nicht anlässlich einer in Ausübung seines Amtes erfolgten Meinungsäußerung oder Stimmabgabe verfolgt oder Gegenstand irgendeiner Ermittlung werden.

Artikel 59

Außer bei Entdeckung auf frischer Tat darf ein Mitglied einer der beiden Kammern während der Sitzungsperiode in Strafsachen nur mit Genehmigung der Kammer, der es angehört, an einen Gerichtshof oder ein Gericht verwiesen, unmittelbar dorthin geladen oder festgenommen werden.

Außer bei Entdeckung auf frischer Tat dürfen Zwangsmaßnahmen gegen ein Mitglied einer der beiden Kammern, für die das Eingreifen eines Richters erforderlich ist, während der Sitzungsperiode in Strafsachen nur vom ersten Präsidenten des Appellationshofes auf Antrag des zuständigen Richters angeordnet werden. Dieser Beschluss wird dem Präsidenten der betreffenden Kammer mitgeteilt.

Eine Haussuchung oder Beschlagnahme aufgrund des vorangehenden Absatzes darf nur im Beisein des Präsidenten der betreffenden Kammer oder eines von ihm bestimmten Mitglieds erfolgen.

Während der Sitzungsperiode dürfen nur die Mitglieder der Staatsanwaltschaft und die zuständigen Bediensteten gegen ein Mitglied einer der beiden Kammern in Strafsachen Verfolgungen einleiten.

In jedem Stadium der Untersuchung kann das betroffene Mitglied der einen oder anderen Kammer während der Sitzungsperiode in Strafsachen bei der Kammer, der es angehört, die Aussetzung der Verfolgung beantragen. Diese Kammer hat darüber mit Zweidrittelmehrheit der abgegebenen Stimmen zu entscheiden.

Die Haft eines Mitglieds einer der beiden Kammern oder seine Verfolgung vor einem Gerichtshof oder Gericht wird während der Sitzungsperiode ausgesetzt, wenn die Kammer, der das Mitglied angehört, dies verlangt.

Der Sachverhalt

Laut dem Schreiben der belgischen Behörden stellt sich der Sachverhalt folgendermaßen dar:

[Die] Staatsanwaltschaft Dendermonde [hat] ein Ermittlungsverfahren gegen Herrn Frank Arthur Hyppolite Vanhecke, [...], belgisches Mitglied des Europäischen Parlaments, wegen Verstoßes gegen Artikel 1 Absatz 3 Satz 2 des Gesetzes vom 30. Juli 1981 über die Ahndung bestimmter Straftaten, denen Rassismus oder Xenophobie zugrunde liegen, (geändert durch das Gesetz vom 10. Mai 2007) eingeleitet [...].

Kurz zusammengefasst lässt sich der Tatbestand wie folgt darstellen:

Am 3. November 2005 wurde vom Magistrat der Stadt Sint-Niklaas Klage gegen den Verfasser, den Herausgeber, den Drucker bzw. den Verteiler des Artikels „Was Sie in der Presse nicht lesen konnten oder durften“ in der Vlaams Belang-Krant Nr. 2, Ausgabe SintNiklaas, vom April/Mai/Juni 2005 eingereicht.

Rechtsgrundlage für die Einreichung der Klage ist Artikel 1 Absatz 3 Satz 2 des Gesetzes vom 30. Juli 1981 über die Ahndung bestimmter Straftaten aus rassistischen und fremdenfeindlichen Beweggründen.

In dem fraglichen Artikel der Vlaams Belang-Krant geht es um die Polemik, die durch die Zerstörung von Grabsteinen auf dem Friedhof Tereken im Zeitraum vom 29. März 2005 bis 5. April 2005 ausgelöst wurde und bei der vom Vlaams Belang mit Nachdruck behauptet wurde, dass diese Taten von Jugendlichen mit Migrationshintergrund, also ausländischer Herkunft, begangen worden seien.

Dieser „Migrationshintergrund“ wurde in dem betreffenden Artikel im Zusammenhang mit der Formulierung verwendet: „(...) Eine Kultur, die den Toten und den Symbolen einer anderen Religion keine Achtung mehr entgegenbringt, ist eine entgleiste Kultur (...)“. Gleichzeitig wurde dazu aufgerufen, über diese Taten „nicht den Mantel der Nächstenliebe zu breiten“.

In der Sache soll es sich bei den Tätern nicht um Personen mit Migrationshintergrund handeln, vielmehr sollen als Täter vier einheimische Minderjährige, die aus zwei flämischen Familien stammen, in Erscheinung getreten sein.

Am 30. Juni 2005 reichte der Magistrat der Stadt Sint-Niklaas eine förmliche Klage beim Zentrum für Chancengleichheit und Rassismusbekämpfung ein.

Am 30. September 2005 gab das Zentrum für Chancengleichheit und Rassismusbekämpfung gegenüber dem Magistrat der Stadt Sint-Niklaas eine Stellungnahme ab, die als Grundlage für den Beschluss diente, bei der Staatsanwaltschaft Dendermonde Klage einzureichen.

Von der Staatsanwaltschaft Dendermonde wurde ein Ermittlungsverfahren unter besonderer Berücksichtigung der aufeinander folgenden Verantwortlichkeit gemäß Artikel 25 der Verfassung (konsolidierte Fassung) eingeleitet.

Zunächst standen weder der Verfasser noch der Drucker noch der Vertreiber fest.

Als verantwortlicher Herausgeber konnte Herr Frank Vanhecke ermittelt werden, der zunächst jedoch keine Bereitschaft erkennen ließ, im Rahmen des Ermittlungsverfahrens eine Erklärung abzugeben.

Aus diesen Gründen stellte die Staatsanwaltschaft Dendermonde zunächst nur die strafrechtliche Verfolgung von Frank Vanhecke in Aussicht; in diesem Sinne wurden die Ermittlungen am 21. November 2006 abgeschlossen.

Am 27. November 2006 ging allerdings bei der Staatsanwaltschaft Dendermonde ein Schreiben des Anwalts von Herrn Frank Vanhecke mit der Bitte um weitere Ermittlungen und einer Absichtserklärung zur Mitwirkung ein.

Nahezu zeitgleich erhielt die Staatsanwaltschaft Dendermonde ferner eine Benachrichtigung durch die föderale Kriminalpolizei, ihr sei mitgeteilt worden, dass auch der Verfasser des fraglichen Artikels sich für eine Vernehmung zur Verfügung stelle.

Mit Kommentar vom 27. November 2006 leitete die Staatsanwaltschaft in Anbetracht dieses Sachverhalts eine eingehendere Untersuchung ein.

Im Zuge der anschließenden Ermittlungen wurde festgestellt, dass sich der genannte Marc Van De Velde als Verfasser zu erkennen gab. Seine Vernehmung und die Auswertung seines PC schienen teilweise zu bestätigen, dass er der Verfasser (eines Teils) des Artikels war. Der vierte und der fünfte Absatz des fraglichen Artikels sowie die Überschrift stammen jedoch nicht aus seiner Feder.

Bei den weiteren Ermittlungen ließ sich nicht klären, wer der Verfasser der belastenden Absätze 4 und 5 und der Überschrift des fraglichen Artikels war, darunter der beanstandeten Passage „(...) Nicht vernehmen durfte man allerdings, dass die Täter, allesamt junge Teenager, einen Migrationshintergrund hatten, also Jugendliche ausländischer Herkunft waren.“

Nach bisheriger Auffassung der Staatsanwalt Dendermonde ist Herr Frank Vanhecke für diese Abschnitte als verantwortlicher Herausgeber strafrechtlich zu belangen.

Unter Berücksichtigung der vorstehend dargelegten Erwägungen beabsichtigt die Staatsanwaltschaft Dendermonde, Herrn Frank Vanhecke aufgrund des zu Beginn des vorliegenden Berichts erwähnten Artikels vor die Correctionele Rechtbank (Strafkammer) zu laden (siehe auch den beigefügten Entwurf der Vorladung).

Angesichts des Abgeordnetenstatus von Herrn Vanhecke kann eine derartige Strafverfolgung erst nach Aufhebung seiner parlamentarischen Immunität stattfinden.

Stellungnahme von Frank Vanhecke

Bei seiner Anhörung machte Frank Vanhecke geltend, dass fumus persecutionis vorliege. Erstens sei der Bürgermeister der Stadt Sozialist, und Grund für die Strafverfolgung sei Antagonismus gegenüber Personen, die für eine Spaltung des belgischen Staates eintreten. Zweitens sei die Strafverfolgung nach belgischen Standards extrem schnell durchgeführt worden. Drittens habe eine französischsprachige Zeitung im Rahmen der Berichterstattung über den Fall erklärt, dass im Fall einer Weigerung des Europäischen Parlaments, die Immunität von Frank Vanhecke aufzuheben, der Fall zu den Akten gelegt würde (obwohl der Verfasser des Artikels bekannt ist).

Frank Vanhecke führte ferner aus, dass er als verantwortlicher Herausgeber gemäß Artikel 25 der belgischen Verfassung[1] nicht strafrechtlich verfolgt werden könne, wenn der Autor bekannt ist und seinen Wohnsitz in Belgien hat. Er habe den Artikel nicht geschrieben oder geändert oder jemand anderen damit beauftragt. Er sei der verantwortliche Herausgeber von etwa 200 Kommunalzeitungen. Im Fall des fraglichen Artikels seien sowohl der Verfasser als auch die Person, die für seine Änderung zuständig war, bekannt und haben ihren Wohnsitz in Belgien. Herr Vanhecke wies ferner darauf hin, dass er für diesen Artikel einen Widerruf herausgegeben und verbreitet hatte.

Bewertung

In erster Linie geht man davon aus, dass dieser Fall nicht unter Artikel 9 des Protokolls fällt, da es nicht zu den Pflichten eines MdEP gehört, als verantwortlicher Herausgeber der Zeitung einer nationalen Partei zu fungieren. Somit ist der Fall gemäß Artikel 10 zu prüfen, nämlich angesichts des belgischen Rechts und der konsolidierten Praxis des Rechtsausschusses.

Artikel 58 der belgischen Verfassung wird aus denselben Gründen ausgeschlossen wie Artikel 9 des Protokolls. Es muss daher geprüft werden, ob die Immunität anhand eines der von Herrn Vanhecke vorgebrachten Gründe aufgehoben werden kann.

An erster Stelle ist festzuhalten, dass kein ausreichender Nachweis für fumus persecutionis erbracht worden ist. Es ist nicht ungewöhnlich, die Verantwortung für den Inhalt einer Zeitung dem Chefredakteur zuzuweisen, und der Umstand, dass der Bürgermeister Sozialist ist, ist nicht ausreichend, um daraus die Behauptung abzuleiten, die Anklage sei politisch motiviert.

Zweitens wird angemerkt, dass es in dem Fall, dass die Personen, die den fraglichen Artikel geschrieben und geändert haben, tatsächlich bekannt sind und ihren Wohnsitz in Belgien haben, möglich ist, dass Herr Vanhecke durch das belgische Recht vollständig geschützt ist. Außerdem scheint Herr Vanhecke einen Widerruf zu dem betreffenden Artikel herausgegeben und verbreitet zu haben. Allerdings wird betont, dass es nicht in den Zuständigkeitsbereich des Rechtsausschusses fällt, aus dem Sachverhalt Erkenntnisse zu ziehen oder eine Würdigung der Anklagepunkte vorzunehmen. Artikel 7 Absatz 7 der Geschäftsordnung stellt klar, dass sich der Rechtsausschuss in keinem Fall zur Schuld oder Nichtschuld des Mitglieds bzw. zur Zweckmäßigkeit einer Strafverfolgung der dem Mitglied zugeschriebenen Äußerungen oder Tätigkeiten äußert, selbst wenn er durch die Prüfung des Antrags umfassende Kenntnis von dem zugrunde liegenden Sachverhalt erlangt.

Schlussfolgerung

In Anbetracht der vorstehenden Überlegungen und gemäß Artikel 7 Absätze 1 und 2 der Geschäftsordnung sowie nach Prüfung der Argumente für und gegen die Aufhebung der Immunität empfiehlt der Rechtsausschuss dem Europäischen Parlament, die parlamentarische Immunität von Frank Vanhecke aufzuheben.

  • [1]  Artikel 25 der belgischen Verfassung:
    Die Presse ist frei; die Zensur darf nie eingeführt werden; von den Autoren, Verlegern oder Druckern darf keine Sicherheitsleistung verlangt werden.
    Wenn der Autor bekannt ist und seinen Wohnsitz in Belgien hat, darf der Verleger, Drucker oder Verteiler nicht verfolgt werden.

ERGEBNIS DER SCHLUSSABSTIMMUNG IM AUSSCHUSS

Datum der Annahme

3.11.2008

 

 

 

Ergebnis der Schlussabstimmung

+:

–:

0:

10

0

1

Zum Zeitpunkt der Schlussabstimmung anwesende Mitglieder

Monica Frassoni, Giuseppe Gargani, Lidia Joanna Geringer de Oedenberg, Klaus-Heiner Lehne, Manuel Medina Ortega, Aloyzas Sakalas, Francesco Enrico Speroni, Diana Wallis, Jaroslav Zvěřina, Tadeusz Zwiefka

Zum Zeitpunkt der Schlussabstimmung anwesende Stellvertreter

Renate Weber