Geschlechtsspezifische Gewalt: Definition, Fakten und EU-Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung
Geschlechtsspezifische und häusliche Gewalt sind in Europa weiterhin weit verbreitet und betreffen vor allem Frauen und Mädchen. Die EU hat Vorschriften erlassen, um ihr ein Ende zu setzen.
In den meisten EU-Mitgliedstaaten gibt es Gesetze zur Bekämpfung von Gewalt gegen Personen aufgrund ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Ausrichtung. Allerdings mangelt es an einheitlichen Regeln für den Umgang mit diesem Thema in der EU, was dazu beiträgt, dass das Problem fortbesteht. Aus diesem Grund hat das Europäische Parlament auf einer neuen EU-Gesetzgebung zu diesem Thema bestanden und mehrere Maßnahmen gefordert.
Was ist geschlechtsspezifische Gewalt?
Geschlechtsspezifische Gewalt bezeichnet jede Form von Gewalt, die sich gegen eine Person aufgrund ihres Geschlechts richtet. Diese Gewalt kann sich in verschiedenen Formen äußern, darunter körperlich (zum Beispiel Femizid), sexuell (zum Beispiel Vergewaltigung oder sexuelle Belästigung), psychisch oder wirtschaftlich.
Sie kann sowohl im öffentlichen als auch im privaten Raum stattfinden. Häusliche Gewalt etwa geschieht innerhalb der Familie oder zwischen (ehemaligen) Ehepartnern oder Partnern. Häufig werden diese Gewalttaten von engen Familienangehörigen oder Intimpartnern verübt.
Die Begriffe „geschlechtsspezifische Gewalt“ und „Gewalt gegen Frauen“ werden oft synonym verwendet, da die meisten dieser Gewalttaten von Männern gegen Frauen begangen werden. Diese Gewalt hängt mit Machtungleichgewichten zwischen den Geschlechtern zusammen und ist ein komplexes Problem, das durch soziale und kulturelle Strukturen, Normen und Werte beeinflusst wird.
Weibliche Genitalverstümmelung, Zwangsheirat sowie die nicht einvernehmliche Verbreitung intimer oder manipulierter Inhalte gelten ebenfalls als Formen sexueller Ausbeutung. Auch Cyberkriminalität wie Cyberstalking, Online-Belästigung oder Anstiftung zu Gewalt oder Hass im Netz zählen dazu.
EU-Statistiken zur geschlechtsspezifischen Gewalt
Die EU-Erhebung über geschlechtsspezifische Gewalt liefert detaillierte Statistiken auf Basis von Daten, die von September 2020 bis März 2024 erhoben wurden. Sie bietet umfassende Einblicke in die Erfahrungen von Frauen in der gesamten EU. Die Erhebung wurde von Eurostat, der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte und dem Europäischen Institut für Gleichstellungsfragen koordiniert und basierte auf Interviews mit 114.023 Frauen im Alter von 18 bis 74 Jahren.
Die Umfrage zeigt, dass jede dritte Frau in der EU seit ihrem 15. Lebensjahr geschlechtsspezifische Gewalt erlebt hat. Etwa 17 Prozent der Frauen haben Gewalt durch einen Intimpartner erfahren.
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Frauen in der EU hat geschlechtsspezifische Gewalt erlebt
Rund 30 Prozent der Frauen in der EU haben im Laufe ihres Lebens körperliche Gewalt, Drohungen und/oder sexuelle Gewalt erfahren. Etwa 13 Prozent berichten von körperlicher Gewalt oder Drohungen ohne sexuelle Übergriffe, während 17 Prozent sexuelle Gewalt erlebt haben.
Die höchsten Raten geschlechtsspezifischer Gewalt wurden in Finnland, Schweden und Ungarn festgestellt. In Finnland gaben 57 Prozent der Befragten an, geschlechtsspezifische Gewalt erlebt zu haben; 37 Prozent der Frauen berichteten von sexueller Gewalt. In Schweden äußerten sich 52 Prozent der Befragten entsprechend, wobei 41 Prozent sexuelle Gewalt angaben. In Ungarn gaben 49 Prozent an, geschlechtsspezifische Gewalt erlebt zu haben, 17 Prozent berichteten von sexueller und 31 Prozent von körperlicher Gewalt.
Die Umfrage betont, dass länderübergreifende Vergleiche mit Vorsicht zu interpretieren sind, da die gesellschaftliche Wahrnehmung dessen, was als Gewalt gilt, sowie das Bewusstsein und die Sensibilität für unterschiedliche Gewaltformen von Land zu Land erheblich variieren können.
Maßnahmen des Parlaments zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt
EU-Vorschriften zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen
Im April 2024 verabschiedete das Parlament die ersten EU-Vorschriften zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Ziel ist es, geschlechtsspezifische Gewalt zu verhindern und die Opfer zu schützen, insbesondere Frauen und Opfer von häuslicher Gewalt. Die Richtlinie fordert strengere Gesetze gegen Cybergewalt, bessere Unterstützung für die Opfer, Maßnahmen zur Verhinderung von Vergewaltigungen und ein besseres Verständnis der sexuellen Einwilligung.
Die neuen Vorschriften verbieten auch weibliche Genitalverstümmelung und Zwangsheirat und enthalten besondere Leitlinien für Straftaten, die online begangen werden.
Die Rechtsvorschriften umfassen zudem eine erweiterte Liste erschwerender Umstände, bei deren Vorliegen Straftaten mit strengeren Strafen geahndet werden sollen – etwa wenn sie sich gegen Personen des öffentlichen Lebens, Journalistinnen und Journalisten oder Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger richten.
Vorgesehen ist außerdem, dass die Sicherheit und das Wohlergehen der Opfer oberste Priorität haben. Dazu zählt unter anderem der Zugang zu geschützten Unterkünften. Auch die medizinische Versorgung soll sichergestellt werden, insbesondere im Bereich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit.
Die neuen Regelungen traten im Juni 2024 in Kraft. Die Mitgliedstaaten haben drei Jahre Zeit, um sie in nationales Recht umzusetzen.
Das Recht auf Schwangerschaftsabbruch ist ein Grundrecht
In einer im April 2024 angenommenen Entschließung fordern die Abgeordneten den Rat auf, die sexuelle und reproduktive Gesundheitsfürsorge und das Recht auf einen sicheren und legalen Schwangerschaftsabbruch in die Charta der Grundrechte der Europäischen Union aufzunehmen – eine Forderung, die sie bereits mehrfach erhoben haben.
Die Abgeordneten fordern die Mitgliedstaaten auf, den Schwangerschaftsabbruch im Einklang mit den WHO-Richtlinien von 2022 vollständig zu entkriminalisieren. Die Abgeordneten fordern die Kommission auf, dafür zu sorgen, dass Organisationen, die gegen die Gleichstellung der Geschlechter und die Rechte der Frauen, einschließlich der reproduktiven Rechte, arbeiten, keine EU-Mittel erhalten.
Partnergewalt bei Sorgerechtsstreitigkeiten
Laut der EU-Erhebung von 2024 zur geschlechtsspezifischen Gewalt haben schätzungsweise 18 Prozent der Frauen in der EU im Laufe ihres Lebens körperliche Gewalt, Drohungen oder sexuelle Übergriffe durch einen Intimpartner erfahren. Rund 32 Prozent berichteten von psychischer Gewalt.
Die Studie hebt hervor, dass es für viele Betroffene aufgrund der engen persönlichen Bindung zum Täter besonders schwierig ist, ihre Erfahrungen offen anzusprechen, Hilfe in Anspruch zu nehmen oder Vorfälle bei der Polizei zu melden.
Im Oktober 2021 forderte das Parlament dringende Maßnahmen zum Schutz der Opfer. Bei Sorgerechtsstreitigkeiten, bei denen der Verdacht auf Gewalt besteht, sollten die Anhörungen in einer kinderfreundlichen Umgebung von geschulten Fachleuten durchgeführt werden. Die Abgeordneten fordern außerdem, dass die EU-Mitgliedstaaten den Opfern helfen, finanzielle Unabhängigkeit zu erlangen, damit sie von Missbrauch und Gewalt geprägte Beziehungen verlassen können.
Beitritt zum Übereinkommen von Istanbul
Das Übereinkommen von Istanbul zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt ist ein internationales Abkommen, das Gewalt gegen Frauen rechtlich definiert und einen umfassenden Rahmen für gesetzliche und politische Maßnahmen schafft. Ziel ist es, Gewalt vorzubeugen, Opfer zu schützen und Täter konsequent zu bestrafen.
Zwar haben alle EU-Mitgliedstaaten das Übereinkommen unterzeichnet, doch einige von ihnen haben es bislang nicht ratifiziert.
Das Europäische Parlament hat den Beitritt der EU zum Übereinkommen von Istanbul ausdrücklich unterstützt und mehrfach alle Mitgliedstaaten dazu aufgefordert, den Ratifizierungsprozess endlich abzuschließen.
Im Mai 2023 stimmte das Parlament dem Beitritt der Europäischen Union offiziell zu. Am 1. Oktober 2023 trat das Übereinkommen schließlich für die EU in Kraft.
Weibliche Genitalverstümmelung
Das Parlament hat Gesetze und Entschließungen verabschiedet, um die Genitalverstümmelung von Frauen weltweit zu beseitigen. Obwohl diese Praxis in der EU illegal ist und einige Mitgliedstaaten sie auch dann strafrechtlich verfolgen, wenn sie außerhalb des Landes durchgeführt wird, sind schätzungsweise 600.000 in Europa lebende Frauen von Genitalverstümmelung betroffen und weitere 180.000 Mädchen sind allein in 13 europäischen Ländern stark gefährdet.
Im Jahr 2019 waren „The Restorers“ unter den Finalisten des Sacharow-Preises für geistige Freiheit. Diese aus fünf kenianischen Schülerinnen bestehende Gruppe entwickelte eine App, die Mädchen dabei behilflich ist, sich gegen die Verstümmelung weiblicher Genitalien zu wehren.
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EU-Maßnahmen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen (auf Englisch)
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Übereinkommen von Istanbul: Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen (2016, auf Englisch)
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