Die Aussichten für die europäischen Eisenbahnen sind sonniger geworden im Zuge der neuen Gesetze, nach denen die europäischen Bahngesellschaften ihr Geschäft über die Binnengrenzen der EU hinaus ausweiten können, was zu mehr Wettbewerb und einem besseren Dienstleistungsangebot führt. Der Güterverkehr ist das erste davon berührte Marktsegment, der Personenverkehr dürfte jedoch bald folgen. Das Europäische Parlament begrüßt mehr Wettbewerb in der Bahnindustrie, da die MdEP hoffen, dass ein verbesserter Service der Bahn mehr Verkehr von der Straße und aus der Luft auf die Schiene umleiten kann.
In beiden Fällen, sowohl beim Güter- als auch beim Personenverkehr, gibt es einige gewichtige Gründe, die Schiene gegenüber der Straße und dem Luftverkehr zu fördern: Es gilt, Staus auf der Straße und in der Luft zu verringern und die Umwelt zu entlasten, da die Bahn die Umwelt weniger verschmutzt als alle ihre Konkurrenten. Die europäischen Eisenbahnen sind in den letzten Jahren gegenüber Straßen- und Luftverkehr jedoch heftig ins Hintertreffen geraten: Zwischen 1970 und 1998 sank der Anteil des Schienengüterverkehrs von 21,1 auf 8,4%. Während diese Transportart in Europa immer mehr zurückging, florierte sie in den USA, wo inzwischen 40% aller Güter per Bahn transportiert werden. Der Niedergang des Schienenverkehrs scheint daher keineswegs unausweichlich zu sein.
Dem Schienenverkehr auf dem europäischen Markt, der in lauter nationale Netze aufgespalten ist, zu neuer Blüte zu verhelfen, ist kein leichtes Unterfangen. Dem entgegen stehen nicht nur technische Hindernisse wie die Unvereinbarkeit der verschiedenen Schienensysteme, sondern auch die Abneigung einiger Regierungen, ihre Bahnunternehmen dem externen Wettbewerb zu öffnen. Die Europäische Gemeinschaft ist jedoch Schritt für Schritt vorangekommen, indem sie den Bahnunternehmen verstärkt Zugang zu den Netzen auf dem gesamten Kontinent garantierte. Zu Beginn der 90er Jahre wurde die Liberalisierung eingeleitet und 2001 und 2003 durch zwei größere Gesetzespakete fortgeschrieben.
Erste Schritte - Wettbewerb im internationalen Güterverkehr
Das erste Eisenbahnpaket, das 2001 angenommen wurde, tat einen ersten Schritt in Richtung Liberalisierung des internationalen Güterverkehrs. Die nationalen Regierungen äußerten im Rahmen des Ministertreffen ihren Wunsch, die Liberalisierung auf das transeuropäische Güterverkehrsnetz (TERFN) begrenzen, das lediglich einige größere Terminals und Häfen umfasste. Auf Druck des Parlaments willigten die Minister jedoch darin ein, die Liberalisierung auf das TERFN lediglich bis zum 15. Mai 2008 zu befristen; danach sollen Bahnunternehmen, die internationalen Güterverkehr anbieten wollen, Zugang zum gesamten europäischen Netz haben.
Dieses Gesetzespaket räumt auch auf mit dem Wirrwarr unterschiedlicher nationaler Bestimmungen für die Vergabe von Lizenzen an Bahnunternehmen, den Zugang zu Bahninfrastrukturen und die Ausstellung von Sicherheitsbescheinigungen für Bahngesellschaften. Ohne europaweite Standardvorschriften in diesen Bereichen bliebe der freie Marktzugang lediglich ein frommer Wunsch.
Liberalisierung des nationalen Güterverkehrs - vorgezogenes Datum für den internationalen Güterverkehr
Den Verfechtern des Schienenverkehrs dünkten die Ergebnisse des ersten Pakets jedoch allzu mager. Die Entwicklungen auf dem Schienensektor ließen eine raschere Liberalisierung geboten erscheinen. Es entstanden beispielsweise neue Bündnisse zwischen Unternehmen in Italien, Deutschland, Österreich und den Niederlanden, die internationale Korridore bedienten, besonders die Alpentransitstrecken. Nach Ansicht der Kommission hatte das erste Eisenbahnpaket dem Markt eine neue Dynamik verliehen und Spediteuren, Bahnbetreibern und Investoren neue Perspektiven eröffnet. Diese Erwartungen wurden außerdem genährt durch die Forderung des Parlaments, den Gütermarkt bei der letzten Verhandlungsrunde im Jahr 2000 ganz zu öffnen.
Die Kommission legte deshalb 2002 ein zweites Eisenbahnpaket vor mit dem Ziel, die Liberalisierung des Güterverkehrs zu beschleunigen. Wieder leisteten einige Regierungen, insbesondere die französische, die belgische und die luxemburgische, Widerstand. Strittigster Punkt war die Festsetzung eines neuen Datums für die Liberalisierung des internationalen Güterverkehrs. Im ersten Bahnpaket wurde das Jahr 2008 angestrebt, ein Datum, das jetzt auf den 1. Januar 2006 vorgezogen wurde, obwohl der Vorstoß, ein genaues Datum anzugeben, vom Parlament stammte. Das Parlament wollte auch eine Freigabe des nationalen Güterverkehrs ab 2006 erreichen, doch angesichts des Widerstands einiger nationaler Regierungen, die für 2008 plädierten, einigte man sich mit den Europa-Abgeordneten auf den 1. Januar 2007.
Als nächstes der Personenverkehr?
Der Personenverkehr ist ein noch weitaus sensiblerer Bereich als der Güterverkehr, da einige Regierungen strikt dagegen sind, ihre Personenverkehrsnetze dem Wettbewerb ausländischer Bahnunternehmen auszusetzen.
Für den internationalen Personenverkehr wurde ein vage klingender Kompromiss im zweiten Eisenbahnpaket erzielt, wonach 2010 als "ein Ziel" für die Liberalisierung formuliert wird, d.h. es wird nichts Konkretes garantiert. Das Thema ist jedoch keineswegs vom Tisch, da die Kommission 2010 nun als Zeitpunkt für die Freigabe dieser Verkehrskategorie im dritten Eisenbahnpaket vorschlägt, das bereits auf den Weg gebracht ist.
Das nationale Personenbeförderung ist die letzte Domäne der nationalen Bahnunternehmen, und einige Regierungen möchten den Termin, an dem auch sie freigegeben wird, so weit wie möglich hinauszögern. Vorschläge, diese Dienste dem EU-weiten Wettbewerb zu öffnen, werden erst für später erwartet.
Sicherheit und Interoperabilität
Abgesehen von der in allen Medien thematisierten Frage der Liberalisierungsfristen, umfasste das zweite Eisenbahnpaket, wie schon das erste, eine Reihe von Begleitmaßnahmen im Hinblick auf Sicherheit und technische Aspekte.
Die nationalen Sicherheitsbestimmungen sollen harmonisiert werden, und in diesem Zusammenhang gelang es dem Parlament, die Regierungen davon zu überzeugen, dass die Einführung neuer nationaler Sicherheitsbestimmungen auf ein Mindestmaß beschränkt werden kann. Da Bahnunfälle manchmal durch mangelhafte Kommunikation verursacht werden, bestanden die Europa-Abgeordneten darauf, dass das Personal, das wichtige Sicherheitsaufgaben wahrnimmt, die Signale und die Sprache, die für die Strecken, auf denen es tätig ist, notwendig sind, auch beherrscht. Interoperabilität, die auf eine möglichst optimale technische Harmonisierung abzielt, war ein weiterer Bereich des Gesetzespakets. Dem Parlament ist es zu verdanken, dass ein Aufzeichnungsgerät (black box), ähnlich den an Bord von Flugzeugen und Schiffen benutzten Modellen, auch in Zügen installiert werden müssen; die Geräte sollen sich für harmonisierte Datenerfassungs- und -verarbeitungsmethoden eignen.
Eine Europäische Bahnagentur wurde gegründet, um die Sicherheit und Interoperabilität zu überwachen. Im Vorstand der Agentur werden Mitglieder aus allen EU-Staaten und der Kommission vertreten sein. Auf Druck der MdEP werden Arbeitgeber und Arbeitnehmer ebenfalls im Vorstand sowie in den Arbeitsgruppen vertreten sein, die sich mit Arbeitsbedingungen, Gesundheit und Sicherheit befassen.
Mit den Marktkräften arbeiten - wenn sie die besten Ergebnisse liefern
Ziel der jüngsten EU-Bahngesetzgebung ist nicht, den Marktanteil der Schiene auszuweiten, indem gegen die Marktkräfte gekämpft wird, sondern vielmehr, die Marktkräfte zu nutzen, um die Bahnindustrie wettbewerbsfähig zu machen. Liberalisierung bedeutet nicht unbedingt Privatisierung, da sowohl staatliche als auch private Bahngesellschaften in neu eröffneten Märkten miteinander konkurrieren können.
Man kann einen interessanten Vergleich ziehen zwischen der Haltung des Europäischen Parlaments gegenüber der Liberalisierung der Postdienste und seiner Position in Bezug auf die Liberalisierung der Bahnindustrie. Früher sprachen sich die MdEP gegen etwas aus, das sie als übermäßige Liberalisierung ansahen, und sie kämpften erfolgreich für die Erhaltung des Universaldienstes, wie beispielsweise die Postzustellung in ländlichen Gebieten zu annehmbaren Preisen für alle Kunden. Im Fall der Bahn erwies sich das Parlament als weitaus liberalisierungsfreudiger als die nationalen Regierungen, da es glaubte, dass alle Nachteile durch die Vorteile aufgewogen werden, die der Gesellschaft durch eine effizientere Bahnindustrie erwachsen.
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